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Herbert Lilge

Editorial

Diese eindeutige, mit hoher Sachkompetenz geschriebene Kritik an der Rolle der Demoskopie stammt aus der Feder des 1938 geborenen Schweizer Professors Dr. Fritz Ulmer, seit 1973 an der Bergischen Universität Gesamthochschule Wuppertal, wo er den Fachbereich Mathematik von heute internationalem Renommee aufbaute. Sein Aufsatz erschien vor der Bundestagswahl im Januar dieses Jahres in Heft 1/1987 von "bild der wissenschaft", Deutsche Verlagsanstalt, Stuttgart, der für die Abdruckerlaubnis zu danken ist.

In allen gängigen Wahlprognosen und im ZDF-Politbarometer, um die allein es hier geht, schlägt im Urteil des Autors nicht die Stunde der Wahrheit. Der latente Zweifel an der Zuverlässigkeit der Befragung eines sogenannten repräsentativen Querschnitts der Bevölkerung wird verstärkt. Ist die Demoskopie eine " Wissenschaft oder nur ein wissenschaftlich verbrämtes Orakel der Neuzeit?" Der Autor, nach rein mathematisch-statistischen Kriterien urteilend, spricht von einer Entlarvung der gängigen Wahlprognosen und erst recht der kommerziell motivierten Meinungsumfragen als pseudowissenschaftliche Vorspiegelung exakter Zahlen. Er sieht die statistische Qualität des "Politbarometers" weit davon entfernt, den behaupteten Trend tatsächlich aufzeigen zu können. Er verneint die Fähigkeit der Demoskopie, "Trendaussagen über vier Monate zu machen, wenn die Bewegungen im Prozentbereich liegen." Er gibt in einem Anflug von Sarkasmus dem "Politbarometer" einen neuen Namen: ein Unterhaltungsspiel beim Fernsehen. Nicht mehr. Die Popularitätswerte der Politiker könnte man nach ihm ebenso gut mit dem Würfel bestimmen.
Die Demoskopie hat uns mit der Treffsicherheit ihrer Wahlprognosen - nehmen wir nur die Wahlen von 1986 und 1987 - wahrlich nicht verwöhnt, um es sehr vorsichtig auszudrücken. Aber selbst Fehlprognosen in unzweifelhaft verstärkter Häufung haben bei den Datenhändlern und Produzenten von angeblich wissenschaftlich erstellten Meinungsbildern in keiner Weise die Bereitschaft gefördert, Selbstüberschätzung erkennbar durch Selbstkritik zu ersetzten. Das nicht zuletzt deshalb, weil sich die Politik seit langem ungeachtet aller demoskopischen Mißgriffe und Niederlagen aufs bedenklichste in die Abhängigkeit von Meinungsumfragen begeben hat.
Mit sublimer, legitimer und erhellender Ironie versieht der Autor seinen kritischen Beitrag mit der Ergänzung "Der Orakelspruch mit dem repräsentativen Querschnitt. " An Beweisen wissenschaftlichen Gewichts läßt er es nicht fehlen. Ansprüchen und Erwartungen, die an die Demoskopie hinsichtlich ihrer Meßgenauigkeit und Zuverlässigkeit gestellt werden, kann sie mit ihrem Instrument der kleinen Zahl, also des Tausender-Querschnitts, nicht gerecht werden, allenfalls durch Selbsttäuschung. Das zu wissen ist nicht nur gut, sondern notwendig. Es sollte uns vor vermeidbaren Enttäuschungen schützen.

H. L.

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