Der Duft der Lottozahlen
Wahlforscher in der Kritik: Ein Wuppertaler
Statistik-Professor attackiert die Umfragen zur Bürgerschaftswahl.
Er wirft den Instituten Unseriosität und Meinungsmache vor
taz
Vor der Wahl möchte man vieles sein - bloß kein Politiker.
Schweißtreibend wie depressionsfördernd ist es wohl, mal geliebt,
dann geschmäht zu werden. Zwischen Hosianna und Kreuziget Ihn liegt oft nur ein Prozentpunkt. Trends,
Prognosen, Stimmungen - Gründe für das Angst essen Seele
auf bei den Senatoren, Ministern und Parteivorsitzenden der
Welt. Im Interview sagen sie "Das ist doch nur eine Umfrage", zu
Hause heulen sie Muttern in den Schoß.
Schön, dass es immer wieder Menschen gibt, die die Mythen
dieser Welt entzaubern. So einer ist wohl der Wuppertaler
Statistik-Professor Fritz Ulmer: In der Woche vor der
Bürgerschaftswahl griff er die Umfrage-Päpste von Forsa bis
Infratest an. Niemand frage, "wie die Musterwähler für Umfragen
zusammengetrommelt" würden. Den Ergebnissen der Institute würde "der
Duft von Lottozahlen" anhaften. Und: Sie seien parteipolitisch
gesteuert.
Lange sah es doch so aus: SPD klar vorn, CDU zweiter
Sieger, Kantersieg für Grün, die FDP wacklig. Inbesondere attackiert
Ulmer die Forsa-Umfrage von Anfang Mai, die plötzlich die CDU knapp
vor Scherfs Partei sah. Ulmer: "Forsa ist ein großes Institut, das
von Ex-SPD-Kapitän Manfred Güllner gesteuert wird." Und: Für
SPD-Henning sei die Forsa-Prognose "ein Geschenk des Himmels
gewesen": Hätte er doch jetzt mit der Drohung, im Falle eines
CDU-Sieges nicht mehr antreten zu wollen, demotivierte Genossen
mobilisieren können. Prognosen von ARD und ZDF-Politbarometer hätten
dann wieder ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen den Großen und eine
liberale Wieder-auferstehung vorausgesehen.
Der Knackpunkt sei doch, so Ulmer, dass Institute - wie
auch die Medien - die Fehlertoleranz vielfach "totschwiegen", die
Umfrage "als representativ verkauft" würde. Eine Fehlertoleranz von
plus/minus drei Prozent bedeute jedoch, dass die SPD gar nicht auf
37 Prozent "absacke", sondern zwischen 34 und 40 liege. Und: Die CDU
steige auch nicht auf 38 Prozent, sondern rudere "händeringend"
zwischen 35 und 41 Prozent vor sich hin.
An Forsa-Mann Güllner prallen die Anwürfe natürlich ab:
Professor Ulmer sei "ein Verrückter, der sich seit 50 Jahren bei
jeder Wahl meldet." Richard Hilmer von Infratest dimap nimmt seinen
Kollegen Güllner in Schutz: Kein Institut könne es sich heute
leisten, Gefälligkeitsgutachten zu erstellen. Andererseits räumt er
aber ein, dass die Schwankungsbreiten der Prognosen "schwer zu
vermitteln" seien. Aber: "Wir weisen immer darauf hin." Das
Prognose-Geschäft sei auch nicht so einfach, wie man sich das
vorstelle. Hilmer: "Eine Woche vor der Wahl wissen bis zu 25 Prozent
der Wähler nicht sicher, wem sie ihr Kreuzchen geben sollen."
"Ulmer legt den Finger in die richtige Wunde", meint der
Bremer Politikwissenschaftler Lothar Probst. "Es wird eine Präzision
vorgespiegelt, die es nicht wirklich gibt." Dennoch schaut auch
Probst natürlich auf die Umfragen. Um zu prophezeien, dass die FDP
in der Bürgerschaft landet, weil "ein Teil der Wähler verhindern
wollen, dass die Grünen ein Monopol auf die Opposition behalten."
Aber: Auch von dieser Prognose solle sich am 25. Mai niemand kirre
machen lassen. Denn, so Probst, "der Wähler soll den Parteien und
Instituten ein Schnippchen schlagen - und nur so wählen, wie er es
für richtig hält." "Kai Schöneberg
taz Bremen Nr. 7060 vom 22.5.2003, Seite 28, 112
Zeilen (TAZ-Bericht), Kai Schöneberg
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