Am 2. September 2005 wurden im ZDF-Politbarometer die neuesten Umfrageergebnisse der Forschungsgruppe Wahlen e.V. zur Sonntagsfrage publik gemacht. Aus Kosten- und Zeitgründen kann nur ein winziger Bruchteil der über 60 Millionen Wahlberechtigten befragt werden. Die Forschungsgruppe Wahlen hat diesmal 1305 Wahlberechtigte vom 30. August bis 1. September befragt, deren Telefonnummern ausgelost wurden. Von diesen haben (angeblich) gut ein Drittel gesagt, sie seien sich in ihrer Wahlentscheidung noch nicht sicher (ob sie und für wen sie wählen würden). Das Umfrageergebnis lautete

Offensichtlich ist es nicht repräsentativ für alle Wahlberechtigten, denn es hängt davon ab, welche 1305 (genauer 870) Wahlberechtigten ausgelost wurden und auf die Sonntagsfrage eine definitive Antwort gaben. Verschiedene Auslosungen führen zu verschiedenen Ergebnissen. Für jede Partei gibt es deshalb nicht eine Prozentzahl, sondern ein ganze Palette von möglichen Prozentzahlen. Welche Prozentzahl die richtige ist, lässt sich nicht feststellen. Für die Beurteilung des Informationswertes einer Umfrage ist es daher unerlässlich, diese Bandbreite für jede Partei zu kennen. Die Bandbreiten lassen sich mit Hilfe einer Computersimulation ermitteln, in welcher eine große Anzahl von Auslosungen durchführt wird. Die folgende live Computersimulation von 1000 Auslosungen demonstriert eindrücklich, dass die durch Auslosung verursachten Fehler beträchtlich sind. Es kommt praktisch nicht vor, dass die Fehler für alle Parteien unter 1% liegen, wie dies von Meinungsforschern und Medien durch die Angabe ganzer Prozentzahlen laufend suggeriert wird. Am häufigsten sind Fehler zwischen 2% und 3% für eine große Partei bzw. zwischen 1% und 1,5% für eine kleine Partei. Die Wahrscheinlichkeit hierfür beträgt rund 40%! Mit einer Wahrscheinlichkeit von etwas 30% treten Fehler zwischen 1% und 2% für eine große Partei auf bzw. 0,5% und 1% für eine kleine. Und mit einer Wahrscheinlichkeit von 20% (!) verursacht die Auslosung sogar Fehler zwischen 3% und 4% für eine große Partei bzw. zwischen 1,5% und 2% für eine kleine! Simulationen mit einer feineren Fehler-Abstufungen zeigen: Der auslosungsbedingte Spielraum für große Parteien beträgt ±4,4% und bzw. ±2,2% für kleine Parteien. Das Umfrageergebnis lautet dann nicht Union 43%, SPD 32%, Grüne 7%, FDP 7%, neue alte Linke 8% - wie im ZDF präsentiert - sondern

CDU/CSU SPD Bündnis 90/Grüne FDP neue alte Linke
38,6 - 47,4 27,6 - 36,4 4,8 - 9,2 4,8 -9,2 5,8 - 10,2

Berechnungsgrundlage: 870 Befragte mit definitiver Parteipräferenz (zwei Drittel der 1305 Befragten) und die Prognose soll mit einer Wahrscheinlichkeit von 95% richtig sein. Die potentiell weit größeren Fehlerquellen - wie z.B. falsche Angaben, Antwortverweigerung, erfolglose Kontaktversuche, fehlerhafte Auslosung usw. - sind dabei nicht berücksichtigt.

Fazit. In einer Situation, wo es auf wenige Prozentpunkte ankommt, sind Umfragen für die Katz. Das wahre Umfrageresultat hat keinerlei Informationswert, denn es lässt alles offen. Die SPD liegt zwar weit abgeschlagen hinter der Union zurück. Aber das Umfrageergebnis lässt die Möglichkeit offen, dass

In der ZDF-Politbarometer-Republik werden alle Parteien wunschlos glücklich, denn das unverbindliche Umfrageergebnis lässt sich biegen bis zum Geht-nicht-mehr. Die Parteien können sich nach Herzenslust daran bedienen. Ein paar süffige Beispiele:

1. Die Union schöpft bekanntlich gerne aus dem Vollen und beglückt sich mit 47,4% am "Umfrageergebnis von 38,6% bis 47,4%", was ihr die absolute Mehrheit beschert. FDP und Grüne werden mit je 4,8% unter der 5%-Hürde versenkt und die restlichen 42% werden der Troika Schröder-Lafontaine&Gysi zur freien Ausmachung überlassen

2. SPD und Grüne picken sich die Rosinen aus dem ZDF-Politbarometer-Kuchen naturgemäß etwas anders heraus: Sie bedienen sich mit 36,4% bzw. 9,2% am Umfrageergebnis und ergattern damit eine Regierungsmehrheit von 45,6%, was für die Fortsetzung ihrer Wackelkontakte gerade ausreicht. Denn die FDP wird mit 4,8% unter der 5%-Hürde versenkt und die Union mit 38,6% abgedeckelt. Den Rest überlässt Rotgrün den grauen Panthern und Gysi&Lafontaine zur Bekämpfung der Rentenreform und Hartz IV.

3. Ist die FDP an der Reihe, dann erfüllt sie erst einmal die Forderung ihres Parteiprogrammes nach mehr Eigenverantwortung: Sie verköstigt sich mit satten 9,2% am "Umfrageergebnis von 4,8% - 9,2%", wie das in der freien Marktwirtschaft üblich ist. Dann wird die Union mit 38,6% an die kurze Leine genommen, und als Steigbügelhalterin für die FDP flott gemacht. Damit hat das Guidomobil freie Fahrt mit der Union im Schlepptau. Den Grünen werden mit 4,8% abgespiesen und damit unter die 5%-Hürde versenkt - die Sonstigen besorgen das selber -, den Rest von etwa 45% überlässt die FDP den Nachfolge-Organisationen der Internationalen zur freien Ausmachung - der SPD und der neuen alten Linken.

4. Auch die neue alte Linke (alias PDS) kann in der ZDF-Politbarometer-Republik ihre kühnsten Träume verwirklichen: Sie verschafft sich mit 10,2% nicht nur den Wiedereinzug in den Bundestag, sondern versenkt als erstes die FDP und die Grünen mit 4,8% unter der 5%-Hürde. Dann verhilft sie der Union mit 38,6% zur Impotenz, während die SPD auf 36,4% hochgepäppelt wird. Damit ist Rotgrün vom Tisch und Schröder im Ruhestand mit Riesterrente. Weil Angie und Oskar selbst mit Viagra nicht in ein Bett zu kriegen sind, findet sich die SPD unvermittelt am Gängelband von Lafontaine&Gysi. Vor die Alternative gestellt, bei Angie die zweite Geige zu spielen oder selbst das Ruder zu übenehmen, verpasst der große Vorsitzende Müntefering der SPD einen Ruck nach links und arrangiert sich mit Lafontaine&Gysi.

Im ZDF-Politbarometer werden die Umfrageergebnisse als genau präsentiert. Die Moderatorin Bettina Schausten - ihres Zeichens gelernte katholische Theologin und seit Januar 2003 auch erste Geigerin in der ZDF-Hauptredaktion Innenpolitik - erklärt am Schluss der Sendung jeweils lammfromm, die Forschungsgruppe Wahlen habe (etwa) 1250 Wahlberechtigte telefonisch befragt und die Umfrageergebnisse seien repräsentativ und aussagekräftig für alle Wahlberechtigten. Man darf wohl davon ausgehen, dass das ihre eigenen Worte sind, und dass sie nicht als Sprechblase für einen ZDF-Texter operiert, der im Hintergrund agiert. Wie die Forschungsgruppe Wahlen die Befragten zusammentrommelt, lässt Bettina Schausten außen vor. Ihr Vorgänger, der promovierte Politologe Thomas Bellut, war bei der Wortwahl etwas vorsichtiger. Er wählte sinngemäß stets die Ausdrucksweise "Die Forschungsgruppe Wahlen hat (etwa) 1250 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte telefonisch befragt. Damit ist die Befragung aussagekräftig für die wahlberechtigte Bevölkerung in ganz Deutschland."

Der Internetseite des ZDF-Politbarometers kann man allerdings entnehmen, dass davon keine Rede sein kann, und dass die Zahlen wegen der Zufallsauswahl höchst ungenau sind, was übrigens Dr. Thomas Bellut vor langer Zeit einmal in einer Politbarometersendung eingestanden und eigenhändig vorgeführt hat. Für große Parteien sollen die Fehler bis zu +/- 2,7% betragen, für kleine bis zu +/- 1,4% (siehe Infobox der Forschungsgruppe Wahlen am Schluss der langen, mittleren Textspalte des ZDF-Politbarometers). In Wirklichkeit sind sie weit größer, denn die Fehlerberechnung der Forschungsgruppe Wahlen ist falsch: Da wird klammheimlich vorausgesetzt, dass

Selbst wenn man nur diese eingestandenen Fehler in Rechnung stellt, dann müsste das Umfrageergebnis im ZDF wie folgt dargestellt werden (wie das Dr. Thomas Bellut übrigens einmal in einer Politbarometersendung getan hat)

CDU/CSU SPD Bündnis 90/Grüne FDP neue alte Linke
40,3 - 45,7 29,3 - 34,7 5,6 - 8,4 5,6 - 8,4 6,6 - 9,4

Das heißt im Klartext, dass die Umfrage ist für die Katz gewesen ist. Denn Union und FDP schaffen die Mehrheit oder eben nicht. Nur das möchte die versierte Seelenhirtin und Geigerin Bettina Schausten den Politbarometer-Gläubigen doch nicht zumuten. Wie groß wäre wohl ihre Einschaltquote, wenn sie das offen ausspräche? Statt Klartext inszeniert sie eine farbenprächtige Show mit bewährter Liturgie: Prunkvolle Grafiken und geschminkte Prozentzahlen, musikalisch umrahmt von demoskopischer Lautmalerei. Fürwahr eine gelungene ZDF-Produktion - ganz im Stil von "son et lumière" -, es fehlte nur noch das Schloss Sans Souci als Hintergrundkulisse.


Technische Information:

Die in der ersten Tabelle angegeben Fehler, die durch die Zufallsauswahl der befragten Wahlberechtigten verursacht werden, kann man auch als Laie mit Hilfe der Misserfolgs-Statistik von Umfragen verifizieren. Es zeigt sich, dass etwa

4% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 1% für die großen Parteien und +/- 0,5% für die kleinen einhalten

33% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 2% für die großen Parteien und +/- 1% für die kleinen einhalten

71% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 3% für die großen Parteien und +/- 1,5% für die kleinen einhalten

92% der Umfragen (Auslosungen) die Toleranzen von +/- 4% für die großen Parteien und +/- 2% für die kleinen einhalten

Detaillierte Resultate kann man der unten angeführten Tabelle entnehmen. Etwa 95% der Umfragen (Auslosungen) vermögen die Toleranzen von +/- 4,4% für große Parteien und +/- 2,2% für kleine einzuhalten. Aber knapp 5% der Umfragen (Auslosungen) schaffen nicht einmal das. Mit andern Worten, in jeder zwanzigsten Umfrage (Auslosung) übersteigt der Fehler für eine große Partei +/- 4,4% oder für eine kleine Partei +/- 2,2%!


Grundlage der Simulation: 1.000.000 Wiederholungen, Parteistärken laut Politbarometer vom 2.9.2005, ebenso Stichprobenumfang (1305) und Wahlbeteiligung (67%)

Maximale Abweichung eingehalten von
für große Parteien für kleine Parteien (in Prozent von 1.000.000 Umfragen)
1,0% 0,5% 4%
1,2% 0,6% 7%
1,4% 0,7% 12%
1,6% 0,8% 18%
1,8% 0,9% 25%
2,0% 1,0% 33%
2,2% 1,1% 41%
2,4% 1,2% 49%
2,6% 1,3% 57%
2,8% 1,4% 65%
3,0% 1,5% 71%
3,2% 1,6% 77%
3,4% 1,7% 82%
3,6% 1,8% 86%
3,8% 1,9% 89%
4,0% 2,0% 92,1%
4,2% 2,1% 94,2%
4,4% 2,2% 95,8%
4,6% 2,3% 96,9%
4,8% 2,4% 97,8%
5,0% 2,5% 98,4%
>5,0% >2,5% 1,6%