Das aktuelle Interview
In dieser Ausgabe:
Gesprächspartner: Professor Dr. Friedrich Ulmer
Herr Professor Ulmer, Sie haben in einem aufsehenerregenden Beitrag für die renommierte Zeitschrift "Bild der Wissenschaft" die Zuverlässigkeit von Meinungsumfragen - hier speziell Wahlprognosen - in Frage gestellt. Sie haben die Antwort der Wahlforscher auf die berühmte Sonntagsfrage: "Was würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bundestagswahlen wären?" - mit einem "Orakelspruch" verglichen. An anderer Stelle Ihres Beitrags war schlicht von "Lotteriespiel" die Rede. Wie kam es, daß "Bild der Wissenschaft" Sie bat, in der letzten Ausgabe vor der Bundestagswahl diesen Beitrag zu veröffentlichen?
Professor Ulmer: "Naja, der Zeitpunkt liegt auf der Hand. Vor der Bundestagswahl wird die Öffentlichkeit mit angeblich zuverlässiger Information über die aktuelle politische Stimmungslage bombardiert. Da stellt sich mancher die Frage, wie denn Meinungsumfragen und Prognosen gemacht werden und in welchem Maße sie wissenschaftlich begründet sind. Es ist sicher falsch zu sagen, daß Meinungsumfragen keinen Stellenwert hätten oder daß sie nur Lotterien oder Orakelsprüche seien oder gar, daß sie manipuliert sind. Der wesentliche Punkt ist aber, daß die Aussagekraft von Meinungsumfragen in der Presse und im Fernsehen - und von Politikern - maßlos übertrieben wird. Es wird damit ein Produkt an den Konsumenten abgegeben, das hauptsächlich aus marktschreierischer Verpackung besteht, hinter dem sich ein Minimum an brauchbarer Information verbirgt. In meinem Beitrag für "Bild der Wissenschaft" habe ich versucht, einige Exzesse in Zahlen zu fassen und die Auswirkungen auf politisch relevante Fragen wie 5-Prozent-Hürde, Mehrheitsbildung und zeitliche Trends der Parteienstärken darzustellen."
Es gibt Beispiele von Prognosen, die zutrafen. Es gibt andere - viel mehr Beispiele - bei denen die Wahlforscher völlig daneben lagen. Allensbach sagte beispielsweise die Bundestagswahlergebnisse von 1983 einigermaßen richtig voraus. Ganz im Gegensatz dazu waren die Prognosen bei der Landtagswahl in Hamburg 1986 völlig falsch. Dessen ungeachtet legen die Meinungsforscher bei der nächsten Wahl erneut angeblich genaue Zahlen vor. Was ist von diesen Zahlen zu halten?
Professor Ulmer: "Prognosen sagen manchmal den Wahlausgang qualitativ
richtig voraus, manchmal nicht. Aber es besteht kein Zweifel, daß jede Prognose
quantitativ falsch ist. Das heißt: Die angeführten Prozentzahlen - beispielsweise 46,0
Prozent für die CDU/CSU, 36,0 Prozent für die SPD, 8,3 Prozent für die FDP und 8,5
Prozent für die Grünen - werden mit Sicherheit durch den Wahlausgang nicht bestätigt.
Für die unvermeidlichen Abweichungen und gelegentlichen eklatanten Fehlprognosen führen
die Demoskopen und ihre Sekundanten in den Medien dann die üblichen Erklärungen an.
Es gibt jedoch handfeste - und seit langem bekannte - mathematisch-statistische - Gründe
dafür, daß es grundsätzlich unmöglich ist, bei Meinungsumfragen genaue Prozentangaben
zu machen - von Nachkommastellen ganz zu schweigen - und daß Wahlprognosen manchmal
falsch ausgehen müssen und daß sie in einem gewissen Sinn Lotteriecharakter haben. Wenn
man nämlich nur 1000 oder 2000 Wahlberechtigte befragt, dann kann man eben nicht mit
Sicherheit auf 45 Millionen Wahlberechtigte schließen."
Die Meinungsforscher, schränken wir es ein auf die Wahlforscher; sprechen von einem sogenannten repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung. Dies suggeriert dem Publikum zunächst, daß die Befragten - also in der Regel zwischen 500 und 1500 Personen - ein soziologisches Spiegelbild der Bevölkerung abgeben. Was ist das eigentlich tatsächlich, dieser repräsentative Querschnitt der Bevölkerung?
Professor Ulmer: "Das ist eine sehr schwierige Frage. Es ist leichter zu sagen, was ein "repräsentativer Querschnitt" nicht ist: Nämlich kein Miniaturbild der Bevölkerung; von einem Spiegelbild der Bevölkerung ganz zu schweigen! Repräsentative Querschnitte sind ein Produkt der mathematischen Statistik. Vereinfachend - aber zutreffend - kann man sagen, daß ein repräsentativer Querschnitt der Bevölkerung per Lotterie zusammengestellt wird. Um es etwas salopp zu sagen: Jeder kriegt von der Landeslotterie genau ein Los und dann werden beispielsweise 1000 Gewinner ausgelost Der Preis eines Gewinners besteht darin, daß er befragt wird, also um seine Meinung gebeten wird."
Ist das nicht fast das Gegenteil von dem, was man unter "repräsentativ" versteht? Wie ist dies zu erklären? Sonst müßte ich beinahe sagen: Ist das nicht Unsinn?
Professor Ulmer: "Ihre Reaktion - das ist Unsinn - ist den
Meinungsforschern wohl vertraut und deshalb hängen sie ihre Definition auch nicht an die
große Glocke. Wenn sie aber unter sich sind, dann sieht es anders aus. Die Zufallsauswahl
eines repräsentativen Querschnittes gilt als Statussymbol unter den Demoskopen, je
zufälliger, desto besser! Es ist klar, daß dieses Vorgehen Auswirkungen auf das Resultat
der Meinungsumfrage haben muß. Wären 1000 andere Personen ausgelost worden, dann würde
sich ein etwas anderes Meinungsbild ergeben. Allerdings - und das ist die erstaunliche
Folge des Gesetzes der großen Zahl - sind die Diskrepanzen viel geringer als man als Laie
erwarten würde.
Die Statistik kann Aussagen darüber machen, in welchem Maße das Meinungsbild in einem
per Lotterie ermittelten "repräsentativen Querschnitt" von demjenigen der
ganzen Bevölkerung abweicht und mit welcher (geringen) Chance völlig danebenliegende
Resultate zu erwarten sind. Die Zuverlässigkeit bzw. Unzuverlässigkeit hängt nämlich
nicht von der Bevölkerungsgröße ab, wie man erwarten würde, sondern nur von der Anzahl
der Befragten. Je mehr Leute man befragt, desto genauer, bzw. zuverlässiger ist das
Resultat der Meinungsumfrage. Allerdings gilt das nur dann, wenn wirklich jeder
Wahlberechtigte die gleiche Chance hat für die Befragung ausgelost zu werden. Es ist in
der Praxis ein schwieriges Problem, Auswahlverfahren zu finden, bei denen die
Chancengleichheit gewährleistet ist Solche Verfahren sind äußerst kostspielig."
Weshalb legen die Meinungsforscher die Karten nicht offen auf den Tisch und erklären, daß es den sogenannten repräsentativen Querschnitt gar nicht gibt? Weshalb wird der Lotterieaspekt verheimlicht?
Professor Ulmer: "Einerseits wiegen sich die Meinungsforscher im
Glauben, die mathematische Statistik hätte mit dem Gesetz der großen Zahl die
Zufallsauswahl auf den Schild gehoben und damit seien alle quantitativen Aspekte
gesichert. Andererseits: Wie sollen sie einem Laien plausibel erklären, daß ein per
Lotterie ermitteltes Meinungsbild überhaupt repräsentativ für die ganze Bevölkerung
sein kann? Das geht doch ganz gegen das Gefühl. Damit würde das Mißtrauen geradezu
herausgefordert. So wird das Pferd am Schwanz aufgezogen: Man prägt den Spruch vom
"repräsentativen Querschnitt" und suggeriert damit, daß das ermittelte
Meinungsbild für die ganze Bevölkerung zutreffe.
Für die Rechtfertigung dieses Vorgehens verweisen einige Meinungsforscher im
Kleingedruckten auf der Rückseite ihrer Berichte auf die Statistik. Doch was
die Statistik wirklich sagt, ist in der 'Prognoseindustrie' seit langem durch
Wunschdenken ersetzt worden, welches sich primär an den eigenen Geschäftsinteressen
und denjenigen ihrer Auftraggeber - nämlich der Medien - orientiert."
Wie sehen Sie denn die Geschäftsinteressen der Medien?
Professor Ulmer: "Ja, das ist doch klar. Der "Stern", der
"Spiegel", die "Welt" usw. wollen in ihren Exklusiv-Berichten
angeblich harte Daten über die aktuelle politische Stimmungslage verkaufen. Die sind
überhaupt nicht daran interessiert, den Lesern klarzumachen, daß diese Zahlen in
Wirklichkeit butterweich sind und einen unangenehm hohen Grad von Lotteriecharakter
aufweisen.
Im Fernsehen ist es genauso. Im Politbarometer des ZDF liefert Klaus Bresser mit seriöser
Miene und wissenschaftlicher Verpackung seine exakten Zahlen zur aktuellen politischen
Stimmungslage - er beruft sich auf die "Forschungsgruppe Wahlen". Er möchte
seine Sendung nicht mit Elstner's Show "Wetten daß" in Zusammenhang gebracht
sehen. Dabei kommen die Verrücktheiten in "Wetten daß" viel eher zum Laufe;
als daß Bresser: Prognosezahlen zutreffen. Und in der ARD heißt die entsprechende
Sendung "Meinungsreport" und nicht Lottoreport.
Das Problem für die Medien besteht darin, daß wissenschaftlich vertretbare Aussagen
über die aktuelle politische Stimmungslage niemanden interessieren würden, weil sie viel
zu vage sind. Die Öffentlichkeit und auch die Politiker - werden seit Jahren mit
pseudoexakten Zahlen an der Nase herumgeführt. Dadurch ist eine völlig unrealistische
Erwartungshaltung entstanden, welche laufend mit neuen exakten Daten
befriedigt werden muß. Die Medien werden die Geister, die sie riefen, nicht mehr
los."
Was sind denn wissenschaftlich vertretbare Aussagen? Mit welchen Fehlern ist bei Meinungsumfragen und Prognosen zu rechnen und weshalb werden diese von den selbsternannten Propheten verschwiegen?
Professor Ulmer: "Der Ausdruck "selbst-ernannte Propheten"
gefällt mir nicht. Da denkt man an die Propheten im Alten Testament. Diese hatten
Einsichten und Visionen; die haben doch nicht einfach gewürfelt und damit die Zukunft
vorausgesagt. Wenn die Meinungsforscher die Fehler berücksichtigen würden, dann könnten
sie mit den ermittelten Daten häufig keine brauchbaren Prognosen machen. Ihre
Auftraggeber - die Medien und die Parteien - würden ihnen diese unbrauchbaren Prognosen
nicht abnehmen.
Was die Fehler betrifft, so muß man zwischen zwei Ebenen unterscheiden. Da ist einerseits
der Interviewfehler. Die im Interview gegebene Antwort stimmt nicht mit dem überein, was
der Befragte dann auf dem Stimmzettel in die Wahlurne legt. Zum Beispiel, weil er seine
Meinung geändert hat, er dem Interviewer nicht die richtige Antwort geben wollte, er sich
noch nicht entschieden hat, er nicht zur Urne gehen wollte und dann doch ging oder
umgekehrt. Außerdem gibt fast ein Drittel der Ausgelosten keine Antwort oder sie können
vom Interviewer nicht erreicht werden. Ferner spielt die weitverbreitete Unkenntnis über
die Unterscheidung von Erst- und Zweitstimme eine wichtige Rolle. Es kommt auch vor -
allerdings nicht sehr häufig -, daß der Interviewer den Fragebogen selbst ausfüllt,
weil dies viel schneller geht und die Bezahlung nicht gerade fürstlich ist. Ein
wesentlicher Punkt ist auch die Chancengleichheit des verwendeten Auswahlverfahrens.
Die Größe des Interviewfehlers ist nicht feststellbar. Der Interviewfehler kann aber
gigantisch sein und 5 Prozent und mehr betragen, wie aus den eklatanten Fehlprognosen
z.B. Hamburgwahl 1986 - hervorgeht.
Den andern Fehler - den sogenannten statistischen Fehler - kann man berechnen. Er hängt
hauptsächlich von der Anzahl der durchgeführten Interviews und der Anzahl der
gleichzeitig betrachteten Merkmale ab, bei Wahlprognosen also den vier Parteien. Der
Fehler entsteht dadurch, daß man nur 500, 1000, 1500 oder 2000 auslost und befragt. Aber
Fehler ist eigentlich nicht das richtige Wort, weil es den Eindruck erweckt, als hätte
man ungenau gemessen, was mit mehr Sorgfalt zu vermeiden gewesen wäre. Hier handelt es
sich um ein anderes Phänomen: Die Befragten werden ja ausgelost, und was heißt bei einer
Lotterie schon Fehler? Die Abweichung kann mal gravierend sein, mal überhaupt nicht ins
Gewicht fallen. Man kann eher wie beim Lotto von Chance sprechen und dann die Frage
stellen: Wie groß ist die Chance, daß eine Prognose von einem bestimmten Typ richtig
ist?"
Also dann konkret: Wie groß ist die Chance, daß eine Prognose von Noelle-Neumann richtig ist? Beispielsweise veröffentlichte die "Welt" vom 20. Januar 1987 eine Prognose von Allensbach, nach der die CDU/CSU 44,0 Prozent, die SPD 35,3 Prozent, die FDP 10,4 Prozent und die Grünen 9,6 Prozent erhalten werden.
Professor Ulmer: "Frau Prof. Dr. Dr. h.c. Elisabeth Noelle-Neumann
ist mit einem Lottospieler vergleichbar, der mit drei Mark Einsatz auf fünf Richtige
hofft - soweit es die Chancen betrifft Der Unterschied besteht darin, daß unser
Lottospieler seine drei Mark mit 99.9994 Prozent Sicherheit in den Wind schreiben kann,
während die Allensbach-Chefin für die Prognose einen fünfstelligen Betrag für ihr
Institut kassiert. Bei dieser Sachlage müßte man fast unserem Lottospieler empfehlen,
ins Prognosegeschäft einzusteigen..., bei der "Sonntagsfrage" kommt man
nämlich mit Stammtischargumenten fast soweit wie mit einer Meinungsumfrage von 1000
Interviews. Dies läßt sich mathematisch beweisen.
Eine Prognose dieser Art d.h. auf der Basis von 1000 Interviews gleichzeitig 4
Parteistärken mit einer Nachkommastelle anzugeben - hat eine Chance von praktisch Null,
richtig zu sein, nämlich 0,0006 Prozent. Dabei muß man voraussetzen, daß die 1000
Ausgelosten nicht befragt werden, sondern alle ihre Stimmzettel beim Allensbach-Institut
abgeben, anstatt damit zur Urne zu gehen. Sonst wird die Chance der Richtigkeit der
Prognose noch kleiner. Sie ist wegen des Interviewfehlers unberechenbar."
Wie kann Noelle-Neumann unter diesen Umständen eine Prognose dieser Sorte abgeben?
Professor Ulmer: "Das müssen Sie sie selbst fragen. Die Form des
amtlichen Wahlergebnisses wirkt inspirierend: Prozentzahlen mit einer Nachkommastelle, das
sieht doch gut aus und vermittelt den Eindruck von Genauigkeit. Das fördert die
Vertrauensseligkeit des ahnungslosen Konsumenten von solchen Prognosen. Ich glaube, daß
Frau Noelle-Neumann sehr wohl weiß, daß die Form ihrer Prognosen überzogen ist. In
ihrem Buch "Umfragen in der Massengesellschaft" bekennt sie sich
uneingeschränkt zur Zufallsauswahl für Meinungsumfragen, welche sie mit dem
Quotenverfahren zu realisieren hofft. Sie beruft sich bei der Begründung der
Zufallsauswahl auf das Gesetz der großen Zahl und führt einige erläuternde Beispiele
an.
Aus diesen geht hervor, daß ganze Prozentzahlen - von Nachkommastellen ganz zu schweigen
- unhaltbar sind.
Aber es ist unfair, nur auf Frau Noelle-Neumann herumzuhacken. Sie hat in der Demoskopie
Grundlegendes geleistet, vor allem auf praktischem Gebiet. Das Problem besteht darin, daß
sie bei der "Sonntagsfrage" aus ihren Zahlen Dinge heraussaugt, die einfach
nicht drin liegen. Damit steht sie aber nicht alleine da. Es ist in der
Meinungsforschungsindustrie üblich, mit diesem Unfug, nämlich maßlos überzogenen
Schlußfolgerungen aus Meinungsumfragen - Geld zu verdienen."
Wo ist denn dann noch der Unterschied zwischen einem Meinungsforscher und einem Glücksspieler?
Professor Ulmer: "Naja, die Risikoverteilung ist anders. Haucht ein Glücksspieler bei zwei Würfeln die Sechs an und wettet auf eine Doppelsechs, dann verliert er seinen Einsatz mit 97,2 Prozent Wahrscheinlichkeit. Mit einer Meinungsumfrage hingegen haucht ein Meinungsforscher bedenkenlos gleichzeitig bei sieben Würfeln die Sechs an, wenn er seine Nachkommastellen-Prognose für einen fünfstelligen Betrag verkauft. Ungestraft! Das Risiko tragen die Dummen, die an die Prognose in dieser Form glauben."
Wie steht es denn mit der Chance der Richtigkeit, wenn man die Prognose nur auf ein halbes Prozent genau machen will, also beispielsweise CDU/CSU 46,0 Prozent, SPD 36,0 Prozent, FDP 8,5 Prozent und Grüne 8,5 Prozent, wie dies im ZDF gemacht wurde?
Professor Ulmer: "Eine Prognose dieser Art - d.h. auf der Basis von 1000 Interviews vier Parteistärken gleichzeitig auf ein halbes Prozent genau zu schätzen - ist mit 99,7 Prozent Sicherheit falsch, wobei der Interviewfehler unberücksichtigt bleibt Sie ist also so hoffnungslos wie der Versuch, im Lotto mit drei Mark Einsatz vier Richtige zu treffen."
Bundeskanzler Kohl zeigte sich enttäuscht über den Wahlausgang, als sich nach der Hochrechnung Verluste von fast 5 Prozent für die CDU/CSU abzeichneten. Er begründete seine Enttäuschung mit den Worten, er hätte 46 Prozent erwartet und nicht 44 Prozent. Wie realistisch war diese Erwartung?
Professor Ulmer: "Der Bundeskanzler ist ein etwas besserer
Lottospieler als Frau Noelle-Neumann und das ZDF, aber auch er ist ein sicherer Verlierer,
was seine Chancen betrifft. Aus seiner Aussage geht hervor, daß er, bzw. seine
demoskopischen Ratgeber, sich im Glauben wiegen, sie könnten die Parteistärken auf ein
Prozent genau prognostizieren. Auf der Basis von 1000 Interviews hat eine solche Prognose
eine Chance von knapp 4 Prozent, richtig zu sein, wobei der Interviewfehler
unberücksichtigt bleibt Mit andern Worten, von hundert Prognosen, in denen die
Parteistärken auf ganze Prozentzahlen vorausgesagt werden, sind 96 falsch, d.h. bei
mindestens einer Partei wird die angegebene Prozentzahl nicht zutreffen. Die Zahlen von
Brandt, Genscher und Schily sind also genau so wurmstichig wie diejenigen von Kohl.
Wenn man bei einer Prognose den Spielraum auf 2 Prozent erhöht - also beispielsweise
CDU/CSU 44-46 Prozent, SPD 35-37 Prozent, FDP 8-10 Prozent, Grüne 8-10 Prozent, dann ist
die Chance der Prognose, falsch zu sein, noch immer fast 80 Prozent Dabei bleibt der
Interviewfehler unberücksichtigt. Um einer Prognose eine Chance von 50 Prozent zu geben,
richtig zu sein, muß man den Spielraum auf 3 Prozent erhöhen (+/- 1,5 Prozent), wobei
der Interviewfehler unberücksichtigt bleibt. Es ist aber klar, daß kein Mensch an einer
Prognose interessiert Ist, die in 50 Prozent der Fälle falsch ist. Es sei denn, man
verschweigt diese Tatsache. Will man die Chance der Prognose, richtig zu sein, auf 90
Prozent erhöhen - was immer noch kein berauschendes Sicherheitsgefühl vermittelt -, dann
muß man den Spielraum auf 6 Prozent erhöhen (+/-3 Prozent). Aber wer ist denn noch an
einer Prognose der Form
CDU/CSU | 41-47 Prozent |
SPD | 35-41 Prozent |
FDP | 04-10 Prozent |
Grüne | 04-10 Prozent |
interessiert, wobei der Interviewfehler unberücksichtigt bleibt? Wer würde eine solche Prognose veröffentlichen? Etwa der "Stern"? der "Spiegel"? die "Welt"? Etwa das Politbarometer des ZDF oder der Meinungsreport der ARD? An Einschaltquote Null sind weder ZDF noch ARD interessiert. Der "Stern", der "Spiegel", die "Welt" wollen ihre Auflagen verkaufen und nicht einstampfen."
Gesprächsführung: MICHAEL KROEMER