Bürgerschaftswahl 2003 Bremen - Alptraum für Demoskopen

Aktuell: Bürgerschaftswahl Bremen 25.Mai 2003

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Mit der Sonntagsfrage "Wie würden Sie wählen, wenn am nächsten Sonntag Bürgerschaftswahl wäre?" behaupten die Meinungsforscher die politische Stimmung der Bremer auszuloten. Wie in einem Schlußverkauf kommen vor der Wahl haufenweise Zahlen auf den Markt. Medien und Politiker weiden das hingehaltene Zahlenfutter genüßlich aus und spinnen tolle Geschichten darum herum. Niemand fragt, wie die Musterwähler für Umfragen zusammengetrommelt werden und nach welchen Rezepten ihre weichen Antworten zu knallharten Prozentzahlen verarbeitet werden. Es wäre Aufgabe der Medien, auch darüber zu berichten, und nicht nur die Leser mit täglich frischen Rationen aus den Backstuben der Demoskopen abzufüttern und die Zahlengläubigkeit zu fördern. Und es wäre Aufgabe der Politik, die Offenlegung der tatsächlichen Daten zu erwirken. Wir leben in einer freien - aber nicht narrenfreien - Marktwirtschaft und jeder Meinungsforscher hat das Recht, einen Tip abzugeben oder mit einer Prognose für Schlagzeilen zu sorgen. Wie er zu seinen Zahlen kommt, ist letztlich sein Betriebsgeheimnis. Das Rezept für Cola light wird auch nicht preisgegeben. Marktentscheidend ist die Süffigkeit, und der Nährwert braucht nicht deklariert zu werden. Bei Wahlprognosen ist das genau so. Aber ein Unterschied besteht: Niemand hat das Recht, eine Prognose als das Ergebnis der Sonntagsfrage hinzustellen bzw. diesen Eindruck zu erwecken, wenn die tatsächlichen Zahlen abgeändert werden. Das ist Wählertäuschung, aber branchenüblich.

Bis Anfang Mai - drei Wochen vor der Wahl - war die Welt in Bremen noch in Ordnung. Das Wahlergebnis von 1999 war durch Umfragen in etwa bestätigt worden. Die CDU lag mit ca. 35% respektvoll hinter der SPD (ca. 42%), wie das in den Statuten der seit 1995 regierenden großen Koalition verankert ist. Das wurde den Bremern von Focus und dem Weser-Kurier versichert. Garant dafür war ein Institut namens Infratest-dimap, das im übrigen der FDP das Draußenbleiben prophezeite und den Grünen einen namhaften Bonus bescherte.

Wie ein Blitz aus heiterem Himmel schlug dann am 6. Mai die Meldung "Mehrheit gefährdet" in Bremen ein, nach welcher die SPD auf 37% abgesackt war und die CDU kometenhaft auf 38% stieg. Die Grünen kamen auf satte 14% - wohl inklusive Dosenpfand. Herausgefunden hatte dies Forsa im Auftrag des stern. Forsa ist ein großer Umfrage-Dampfer, der von Ex-SPD-Kapitän Manfred Güllner gesteuert wird.

Für SPD-Bürgermeister Henning Scherf war das ein Geschenk des Himmels, von dem er sich die Mobilisierung demotivierter Genossen versprach. Er lächelte fröhlich, stieg zu Roß und pokerte hoch: "Wenn die SPD nicht stärkste Partei wird, trete ich ab und räume das Feld für Rot-Grün". Das ist nicht ohne Risiko, denn ein beachtlicher Teil der SPD-Basis ist mit seiner großen Koalition nicht einverstanden und fordert unverblümt Rot-Grün. Es könnte ein böses Erwachen geben, wie Henning Scherf im ZDF-online selber bemerkte.

In zwei weiteren Umfragen (ZDF-Politbarometer und ARD) konnte die SPD dann wieder leicht (+1%) auf 38% zulegen. Die CDU hingegen büßte zwei Prozentpunkte auf 36% ein. Einer davon wurde auf die FDP umgebucht, die dank dieser Gutschrift erstmals die 5%-Hürde meisterte. Jetzt wird allgemein ein Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU prognostiziert und der FDP die Auferstehung in der Bürgerschaft in Aussicht gestellt. Den frustrierten Grünen verbleibt nur die Hoffnung, daß viele SPD-Bürger am Wahltag die Haustür wegen des orkanartigen Gegenwindes aus Berlin nicht aufkriegen und deshalb zu Hause bleiben. Oder daß derjenige Teil der SPD-Basis, der Rot-Grün durchsetzen will, das Denkmal Henning Scherf vom Sockel haut, indem er zu den Grünen desertiert. Dann bekämen die Meinungsforscher mit ihrem Dosenpfand postum doch Recht.

Wer die Hiobsbotschaft für die SPD im stern vollständig gelesen hat und im Prozentrechnen sattelfest ist, müßte Schluckauf bekommen, wenn im letzten Satz offenbart wird:

Datenbasis für stern-Fragen zur Bürgerschaftswahl in Bremen: 1194 Wahlberechtigte im Land Bremen (Bremen und Bremerhaven) vom 24. bis 30. April, Fehlertoleranz: +/- drei Prozentpunkte.

Fehlertoleranz plus/minus drei Prozentpunkte heißt nach Adam Riese, daß die SPD gar nicht auf 37% "absackte", sondern auf irgendwo zwischen 34% und 40%. Die CDU "stieg" nicht auf 38%, sondern rudert händeringend zwischen 35% und 41% hin und her - zwischen großer Koalition und dem Weg in die Opposition. Die Grünen kamen nicht auf 14%, sondern auf irgendwo zwischen 11% und 17%. Die FDP verbesserte sich nicht von 2,5% auf 4%, sondern sie wird auch ohne Möllemann wieder manisch depressiv - mit 1% bis 7% liegt alles drin - von himmelhoch jauchzend bis zu Tode betrübt. Man kann es dem stern sichtlich nachfühlen, wenn er die Umfrageergebnisse in dieser Form nicht präsentieren will. Denn er soll die Auflage verkaufen und nicht einstampfen.

Mit Adam Riese platzt also die Story im stern wie eine Seifenblase und entpuppt sich als reines Geschwätz, mit dem Spalten gefüllt werden. Der stern geht davon aus, daß seine Leser an Rechenschwäche leiden oder zu träge sind, die aufgetischten Ergebnisse durch eine einfache Addition und Subtraktion ad absurdum zu führen. Dieses Problem hat weder das ZDF mit seinem Politbarometer noch die ARD mit ihrem DeutschlandTrend. Dort wird die Fehlertoleranz totgeschwiegen und die Ergebnisse einfach als repräsentativ verkauft. Im Internet kann man in ZDF & ARD nachlesen, daß die Fehlertoleranz für große Parteien etwa 3% beträgt und für kleine die Hälfte. Das ist auch noch falsch, denn unter Bremer - Verhältnissen niedrige Wahlbeteiligung und viele Parteien - beträgt die Fehlertoleranz das Doppelte davon!

Wie erklärt sich die Fehlertoleranz bei Meinungsumfragen? Die meisten denken, daß das mit der Befragung zusammenhängt. Die ausgewählten "repräsentativen" Wahlberechtigten seien nicht zu Hause oder verweigerten die Antwort, sie seien noch unentschlossen oder machten falsche Angaben usw. Diese Fehlerquellen konstituieren zweifellos die potentielle Achillesferse jeder Umfrage. Das wird von Meinungsforschern oft bejammert - und regelmäßig ignoriert. Aber mit Fehlertoleranz meinen sie etwas ganz anderes, nämlich die Probleme bei der Auswahl der "repräsentativen" Wahlberechtigten.

Aus Kosten- und Zeitgründen kann nur ein winziger Bruchteil der rund 483 000 Bremer Wahlberechtigten befragt werden. Für eine Umfrage werden etwa 1000 Wahlberechtigte telefonisch interviewt. Deren Telefonnummern werden ausgelost. Für den Durchschnittsbürger paßt das wie die Faust aufs Auge: Zufall ist für ihn das pure Gegenteil von "repräsentativ". Für Meinungsforscher hingegen stellt die Zufallsauswahl das Qualitätsmerkmal einer Umfrage dar, je zufälliger desto besser! Unter dieser Voraussetzung legitimiert nämlich die Statistik eine Hochrechnung von den ausgelosten Wahlberechtigten auf alle. Das ist jedoch an Bedingungen geknüpft, welche die Aussagekraft von Umfragen stark einschränken und viele Resultate wertlos machen. Dies trifft insbesondere auf die Sonntagsfrage zu. Da jede Auslosung von Wahlberechtigten zu anderen Ergebnissen führt, gibt es für jede Partei nicht nur eine, sondern ein ganzes Band von möglichen Prozentzahlen. Dem möchten die Meinungsforscher Rechnung tragen, indem sie eine Fehlertoleranz für große Parteien von etwa 6% angeben (d.h. +/-3%) und für kleine die Hälfte. Welche Zahl innerhalb der Bandbreite die richtige ist, läßt sich nicht feststellen. Bei dieser Berechnung der Fehlertoleranz verwenden die Meinungsforscher eine statistische Formel (Binomialverteilung), die eine Wahlbeteiligung von 100% voraussetzt und nur zwei Parteien zuläßt. Das ist natürlich absurd. Bei fünf relevanten Parteien und einer Wahlbeteiligung von 60% - wie dies 1999 in Bremen der Fall - war beträgt die auslosungsbedingte Bandbreite für große Parteien über 10%, für kleine über 5%. Das kann man mit einer Computersimulation zeigen, indem man sehr viele Auslosungen durchführt und statistisch auswertet. Hat man z.B. in einer Umfrage für die CDU 36% ermittelt und für die SPD 38%, die Grünen 12,5%, die FDP 5%, DVU und PDS je 2,5%, dann lautet das Ergebnis unter Angabe der tatsächlichen Fehlertoleranz

CDU 31-41%, SPD 33-43%, Grüne 10-15%, FDP 2,5-7,5 %, DVU und PDS je 0 - 5%.

So etwas gesteht natürlich kein Meinungsforscher ein, und niemand würde das veröffentlichen. Durch die Bekanntgabe von Umfrageergebnissen mit ganzen Prozentzahlen suggerieren Meinungsforscher und Medien eine Genauigkeit von einem Prozent (+/-0,5%). Selbst wenn man die großen Parteien nur auf zwei Prozent (+/-1%) genau schätzen wollte und die kleinen auf ein Prozent (+/-0,5%), dann müßte man nicht 1000 Bremer befragen, sondern über 25 000. Will man die großen Parteien auf ein Prozent (+/-0,5%) genau schätzen, die kleinen auf halbes Prozent (+/-0,25%), so müßte man über 100 000 Bremer befragen, also fast jeden vierten Wahlberechtigten. (Wahlbeteiligung 60%, statistische Sicherheit 95%). Diese Angaben kann im Prinzip jedermann mit Hilfe des Programmes Mißerfolgstatistik selber überprüfen, in dem er die dort geforderten Angaben über Parteistärken, Wahlbeteiligung, Anzahl der Befragten und Anzahl Umfragen eintippt und das Programm laufen läßt (Das wird allerdings auch auf schnellen Rechnern ziemlich lange dauern). Fazit: Die Vermarktung von Umfrageresultaten ohne Angabe der Fehlerbandbreite ist so irreführend wie die Reklame einer Landeslotterie, durch den Kauf von Losen werde man Millionär.

Man muß sich dabei vor Augen führen, daß bei einer 60%-igen Wahlbeteiligung nur etwa 600 zufällig ausgewählte Wahlberechtigte verwertbare Angaben liefern. Es ist daher nicht überraschend, daß solchen Umfrageergebnissen der Duft von Lottozahlen anhaftet. Das Überraschende und Suspekte besteht vielmehr darin, daß drei unabhängige Meinungsforschungsinstitute Forsa, Forschungsgruppe Wahlen und Infratest-dimap innerhalb weniger Tage mit Umfrageergebnissen aufwarten, die sich fast wie ein Ei dem andern gleichen und ein Kopf-an-Kopf-Rennen verkünden. Bei einer Zufallsauswahl wäre das äußerst unwahrscheinlich. Selbst wenn die drei Institute am Abend des 25. Mai aus den Wahlurnen 600 Stimmzettel zufällig auswählen dürften, so würden bei mindestens einer Partei eklatante Unterschiede auftreten. Für einen Mathematiker ist das ein Hinweis darauf, daß es sich um getürkte Zahlen handeln muß. So, wie das Forsa-Chef Manfred Güllner in einem detaillierten Artikel mit dem bezeichnenden Titel "Der geschönte Wähler" erzählt hat. (Die Woche 1994). Frau Noelle-Neumann, die bekannteste Meinungsforscherin Deutschlands, hat sich öffentlich damit gebrüstet, daß sie an Umfrageergebnissen massiv herumdoktert:

"Zwischen dem, was wir an Rohergebnissen erhalten und dem, was wir als Prognose veröffentlichen, liegt manchmal eine Differenz von zehn oder elf Prozent." (Rheinischer Merkur, 11.09.1987)

Sie nennt das Gewichtungs-Kunst. Bei diesem demoskopischen Tatendrang, stellt sich wohl mancher die Frage: Weshalb werden überhaupt Umfragen durchgeführt? Wer schafft es schließlich nicht, CDU, SPD usw. auf +/- 10% genau zu schätzen?

Die Meinungsforscher begründen ihre Gewalttätigkeit gegenüber Umfrageergebnissen damit, sie könnten mit der Sonntagsfrage nur "Stimmungen" messen, aber keine Stimmen zählen. Das hört sich so an, als hätte man den "repräsentativen" Wahlberechtigten keine konkrete Frage gestellt - nämlich die Sonntagsfrage - sondern eine Art Polit-Thermometer unter den Arm geklemmt und die politische Temperatur gemessen. Oder noch raffinierter: ein Polit-Barometer in den Darm eingeführt und den politischen Binnendruck gemessen und diesen gemäß der Schweigespirale von Noelle-Neumann in Prozentzahlen umgerechnet. Das ist doch Meinungsklima-Schmu in Reinkultur. Damit soll einzig das tatsächliche Problem verschleiert werden: Die Ergebnisse zur Sonntagsfrage taugen nichts für Wahlprognosen!

Was bei der Sonntagsfrage herauskommt, sieht nämlich auf dem Hintergrund der bisherigen politischen Stabilität oft so unglaubwürdig aus, daß Meinungsforscher es nicht wagen, damit an die Öffentlichkeit zu gehen. Frau Noelle-Neumann hat das im Rheinischen Merkur offen ausgesprochen. Und im Spiegel erklärte sie einmal sinngemäß, daß das Umfrageergebnis nicht so wichtig sei, entscheidend sei, wie sie es zurechtbiege ("gewichte"). Auch W. Gibowski, einstiger Chef der Forschungsgruppe Wahlen - der Prozentzahlenschmiede des ZDF-Politbarometers -, hat einmal im Handelsblatt gejammert: "Vergleicht man Umfrageergebnisse mit den tatsächlichen Wahlergebnissen der Parteien bei den Bundestagswahlen, dann stellt man verblüffende Unterschiede fest." Und hieraus hat er zähneknirschend die Konsequenz gezogen: "Auch für die Forschungsgruppe Wahlen ist es unstrittig, daß Ergebnisse der Sonntagsfrage als tatsächliches Wahlergebnis oft sehr unrealistisch wären."

Fazit: Die Demoskopen doktern nicht an den Zahlen herum, weil sie als Schummler auf diese Welt gekommen sind und für geschönte Zahlen honoriert werden, wie das manchmal behauptet wird. Es handelt sich vielmehr um eine kollektive "Zwangshandlung" mit dem Ziel, die Untauglichkeit der Sonntagsfrage für Wahlprognosen zu vertuschen - und den verzweifelten Versuch, "glaubwürdigere" Zahlen zu produzieren. Als Leitplanke hierfür dient die bisherige politische Stabilität. De facto praktizieren Meinungsforscher eine Fortschreibung alter Wahlergebnisse und die Durchführung der Sonntagsfrage ist primär eine Alibiübung.

Nur warum werden die Wähler über diesen Sachverhalt nicht informiert? Warum verheimlicht man ihnen systematisch, daß Prognosen nicht tatsächliche Ergebnisse zur Sonntagsfrage darstellen, sondern lediglich Tips von Meinungsforschern beinhalten? Der Tatbestand der Täuschung "Erstellung oder Vorspiegelung falscher bzw. Unterdrückung wahrer Tatsachen" ist bei der Sonntagsfrage zur Routine geworden. Es wäre Aufgabe der Politik und der Gerichte das abzustellen. Hierfür wäre der bestehende Paragraph über Wählertäuschung (StGB §108a) leicht zu verschärfen, um diese Spielart der Täuschung zu erfassen und allen daran Beteiligten das Handwerk zu legen - den Meinungsforschern und den Medien.

In einer Atmosphäre, die durch Henning Scherfs Poker unberechenbar geworden ist, haben die "Wahlforscher" gute Aussichten, sich eine blutige Nase zu holen. Denn das porträtierte Kopf-an-Kopf-Rennen zwischen SPD und CDU ist keine Einschätzung der aktuellen Situation auf der Basis von Daten, sondern der Ausdruck von Rat- und Hilflosigkeit in einer Situation, in die sie sich durch haltlose Versprechen manövriert haben. Es würde mich nicht wundern, wenn die Bremer am Abend des 25. Mai in einer andern Landschaft aufwachen werden, als ihnen verheißen wurde. Whatever will be, let it be! Auch bei den Bremer Stadtmusikanten lief nicht alles Plan, und trotzdem sind sie wunschlos glücklich geworden.