Wäre am kommenden Sonntag Landtagswahl in Schleswig-Holstein, könnten sich Sozialdemokraten und Grüne freuen, denn ihre bald 20-jährige Herrschaft soll weitergehen. Diese Botschaft verkündet jedenfalls der Norddeutsche Rundfunk (NDR) lautstark. In den ARD-Tagesthemen singen Uli Wickert und der ARD-Prozentzahlenchef Jörg Schönenborn das gleiche Lied. Ähnlich klingt es bei den Lübecker Nachrichten: "CDU holt trotzt Arbeitslosigkeit nicht auf". Der stern lanciert seinen Tipp wie üblich in Comic-Strip-Form, diesmal kommentarlos. Das ZDF schliesslich plaziert "Rot-Grün knapp vor Schwarz-Gelb" und doppelt nach mit dem Untertitel "Große Mehrheit will Simonis als Ministerpräsidentin". Das letzte demoskopische Verdikt kommt aus den Lautsprechern von n-tv "Wechselstimmung bleibt aus". Es bleibt also wie es war - alles klar?
Die Schlußrunde im Umfrage-Karussell wird von den Instituten Infratest-dimap,
Forsa und Forschungsgruppe Wahlen bestritten. Nach der letzten Infratest-dimap-Umfrage
(im Auftrag von NDR
& ARD)
bekämen SPD und Grüne 48,5 Prozent und könnten zusammen weiterrudern
und die Erbschaftssteuer zügig reformieren - um (laut Schröder)
auch die ollen
Hüte von Heide Simonis dereinst der Steuergerechtigkeit zuzuführen.
CDU und Liberale dagegen würden lediglich 43 Prozent erhalten, blieben
aber dem Land als Langzeitarbeitslose erhalten und könnten - gerade rechtzeitig
- von Hartz IV profitieren, bevor sie sich 2010 mit Ein-Euro-Jobs aus ihrer
Misere empor rappeln dürfen. Der Südschleswigsche Wählerverband
(SSW) könnte mit drei Prozent und zwei bis drei Sitzen im Landtag rechnen
- aber seine Träume als potentielles Zünglein an der Waage wären
ausgeträumt.
Forsa erledigte mit einer Umfrage gleich zwei Fliegen auf einen Streich:
Die Lübecker
Nachrichten und den stern.
Für n-tv
führte Forsa ein paar Tage später eine separate Umfrage durch. Die
Forschunsgruppe Wahlen e.V. lieferte wie üblich das Schiesspulver für
das ZDF-Politbarometer. Ein Heer von Wiederkäuern wie dpa,
Reuters,
Süddeutsche Zeitung,
Die Welt, Spiegel
usw. schnappt diese Umfragen gierig auf und verbreitet sie umgehend auf den
eigenen Lautsprechern. Selbst die FAZ kann da nicht abseits stehen und mischt
munter mit. Bei diesem Treiben geht die journalistische Anstandspflicht über
Bord und Prozentzahlen ohne Unterwäsche werden hemmungslos herumgereicht.
Alles was den Spass an nackten Zahlen verderben könnte, wird unter den
Teppich gekehrt. Die Ähnlichkeit mit voyeuristischen Kettenbriefen und
demoskopischen Spam ist frappant. Bei diesen Umfragen handelt es sich um
reine Luftnummern, die als grosses Medienspektakel aufgezogen werden, aber
über die Gretchenfrage - den Wahlausgang - keine Information liefern.
Zu diesem Schluss - man wagt es kaum zu glauben - hat sich diesmal auch das ZDF-Politbarometer durchgerungen, jedenfalls im Internet. Obwohl es praktisch die gleichen Parteistärken auf den Jahrmarkt zu Lübeck karrt wie die Konkurrenz - und Rot-Grün knapp (d.h. 3%) vor Schwarz-Gelb plaziert -, kommt es zu der mutigen Schlussfolgerung, die Umfrage sei für die Katz gewesen, denn der Wahlausgang lasse sich damit nicht vorauszusagen .... Ein Schönheitsfehler mag darin bestehen, dass das ZDF-Politbarometer seine Zahlen zur Sonntagfrage nicht unter der Flagge "politische Stimmung" segeln lässt, sondern mit dem berüchtigten Kuchendiagramm "Wenn am nächsten Sonntag wirklich Landtagswahl wäre..." auftischt. Unter "politische Stimmung" werden nämlich gemessene Werte vorgeführt, während die Verwendung des Kuchendiagramms meist signalisert, dass es sich um Zahlen handelt, die sich die Prognostiker aus den Fingern gesogen haben (für Details siehe Einführung und FAQ). Wie dem auch sei, nach dem Prognosendebakel im Superwahljahr 2004 sind die ZDF-Politbarometerfrösche zwar nicht klüger, aber doch etwas vorsichtiger geworden.
"Wahlprognosen sind keine Orientierungshilfe für den Wähler, sondern Täuschung, denn sie werden systematisch gefälscht." Das sagt der an der Wuppertaler Universität lehrende Schweizer Mathematiker und Statistik-Professor Fritz Ulmer im Interview mit unserer Zeitung. Mit exakten Prozentzahlen für SPD, CDU, FDP, Grüne und SSW nach Befragungen werde eine "unerreichbare Genauigkeit" vorgetäuscht, sagt Ulmer. Die Umfragefehler führten zu eklatanten Fehlprognosen. Für Meinungsforscher ist Ulmer der Demoskopie-Schreck schlechthin, und es wurde versucht, ihn mit einer Klage auf 500000 Mark Buße oder zwei Jahre Haft zum Schweigen zu bringen. Aber sie blitzten vor dem Oberlandesgericht Hamburg ab.
[hier klicken für das vollständige Interview]
Datum | Quelle (Institut) |
CDU | SPD | Grüne | FDP | SSW | Sonstige | Befragte (Wahlbet.1) |
Fehler- bandbreite2 |
---|---|---|---|---|---|---|---|---|---|
16.02.05 | n-tv Forsa |
37% | 40% | 6% | 7% | 4% | 6% | 1002 (keine Angabe) |
6% |
15.02.05 | Kieler
Nachrichten Uni Kiel |
37,3% | 39,4% | 10,6% | 7,0% | 3,3% | 2,4% | 750 (keine Angabe) |
5% |
11.02.05 | ZDF Politbarometer |
37% | 40% | 7% | 7% | 4% | 4% | 1106 (66%) |
3,2 bis 6% |
10.02.05 | NDR+ARD (Infratest-Dimap) |
36% | 41% | 7,5% | 7% | 3% | 5,5% | 1000 (49%) |
2,8 bis 6,2% |
08.02.05 | Lübecker
Nachrichten+stern (Forsa) |
37% | 40% | 7% | 7% | 3% | 6% | 1059 (58%) |
6% |
21.01.05 | NDR (Infratest-Dimap) |
37% | 40% | 8% | 7% | 3% | 5% | 1000 (48%) |
2,8 bis 6,2% |
23.12.04 | Lübecker
Nachrichten (Forsa) |
37% | 39% | 7% | 7% | 4% | 6% | 752 (-) |
- |
Datum | Quelle (Institut) |
CDU | SPD | Grüne | FDP | SSW | Sonstige |
---|---|---|---|---|---|---|---|
16.02.05 | n-tv Forsa |
34% |
37% bis 43% |
3% bis 9% |
4% bis 10% |
1% bis 7% |
3% bis 9% |
11.02.05 | ZDF Politbarometer |
34% bis 40% |
37% bis 43% |
5,4% bis 8,6% |
5,4% bis 8,6% |
2,4% bis 5,6% |
2,4% bis 5,6% |
10.02.05 | NDR+ARD (Infratest-Dimap) |
32,9% |
37,9% bis 44,1% |
6,1% bis 8,9% |
5,6% bis 8,4% |
1,6% bis 4,4% |
4,1% bis 6,9% |
08.02.05 | Lübecker
Nachrichten+stern (Forsa) |
34% bis 40% |
37% bis 43% |
4% bis 10% |
4% bis 10% |
0% bis 6% |
3% bis 9% |
Die Wahlbeteiligung ist die Achillesferse jeder Prognose. Denn für eine realistische Prognose muss zuerst herausgefunden werden, welche Wahlberechtigte überhaupt an der Wahl teilnehmen werden. Das ist ein sehr schwieriges Unterfangen, denn die Erfahrung zeigt, dass in Umfragen sich weit mehr Wahlberechtigte als Wähler deklarieren, als dann tatsächlich zur Urne gehen. Aus diesem Grund halten die Medien und ihre Datenzulieferer sich in diesem entscheidenden Punkt bedeckt oder sie machen vage bzw. irreführende Angaben. Zum Beispiel verkündet der NDR am 10. Februar unter der Schlagzeile " Rot-Grün bleibt vorn"
77% geben an, dass ihre Präferenz bereits so gut wie fest steht.
Das hört sich zunächst wie eine Wahlbeteiligung von rund 80% an. In der Rubrik "Großes Interesse an der Wahl" vermerkt der NDR dann allerdings kleinlaut:
Eineinhalb Wochen vor dem Wahltermin sind zwei von drei Wahlberechtigten (64 Prozent) sehr stark (25 Prozent) bzw. stark (39 Prozent) am Wahlereignis interessiert. 36 Prozent zeigen ein geringes (30 Prozent) bzw. gar kein Interesse (6 Prozent).
Die stark und sehr stark Interessierten werden als Wähler taxiert, d.h. unter den 1000 Befragten befinden sich etwa 640 Wähler. Von diesen haben anscheinend 77% ihre Wahlentscheidung bereits definitiv getroffen. Nach Adam Riese haben somit von den 1000 Befragten etwa 490 eine definitive Aussage darüber gemacht, welcher Partei sie am 20. Februar ihre Stimme geben wollen. Das heisst aber auch, dass für über der Hälfte der Wahlberechtigten (51%) keine verwertbare Information zur Sonntagsfrage vorliegt.
Nachdem der NDR sein (Prognosen)Geschäft in vollem Rampenlicht verrichtet
hat - zieht er den Schwanz wieder ein und reklamiert Unverbindlichkeit für
seine Zahlen. Die Wähler würden sich erfahrungsgemäss nicht
an Prognosen halten. Doch hören wir, wie der NDR diesen Spagat mit einem
demoskopischen Trommelfeuer von Schutzbehauptungen inszeniert:
Die vorgestellten Ergebnisse zur Sonntagsfrage spiegeln die aktuelle
politische Stimmung wider (10 Tage vor der Wahl). Rückschlüsse
auf das tatsächliche Wahlverhalten sind nur begrenzt möglich, zumal
sich vier von zehn Wählern noch nicht festgelegt haben, noch völlig
unentschlossen sind bzw. zur Wahlenthaltung neigen. Die Wähler entscheiden
sich zudem erst kurz vor dem tatsächlichen Urnengang, welcher
Partei sie die Stimme(n) geben. Dabei spielt neben längerfristigen Überzeugungen
und taktischen Überlegungen auch die Wahrnehmung von aktuellen politischen
Ereignissen eine erhebliche Rolle, wie sich bei der letzten Bundestagswahl
eindrücklich zeigte. (Der letzte Satz heisst ins Plattdeutsche übersetzt:
Die Prognosen für die Bundestagswahl 2002 lagen voll daneben und in
Schleswig-Holstein könnte sich das wiederholen.)
In der gross aufgemachten Story auf der Titelseite der Lübecker Nachrichten findet der Leser zwar die laute Botschaft, Rot-Grün hätten den Vorspruch vor CDU und FDP ausgebaut, aber kein Wort über die Wahlbeteiligung und den Anteil der Unentschlossenen. Im 12-seitigen Bericht von Forsa, auf dem die Lübecker Nachrichten ihre Story aufbauen, kann man auf S.11 nachlesen, dass von den 1059 Befragten 58% bestimmt wählen wollten und sich bereits für eine Partei entschieden hätten. Somit liegt über 42% der Wahlberechtigten keine Information vor (Diese wollten entweder nicht wählen oder haben sich noch nicht entschieden.)
Im ZDF-Politbarometer wird die vorhin erwähnte Nachfrage bezüglich Wahlabsicht nicht gestellt. Das dürfte die verkündete hohe "Wahlbeteiligung" von 66% erklären.
Fazit: Während die Institute praktisch identische Parteistärken verkünden, führen deren Angaben zur "Wahlbeteiligung" zu Zahlen, die sich um bis zu 18% unterscheiden! Es ist für den Laien unglaubwürdig und für den Statistiker äußerst unwahrscheinlich, dass die Befragung von derart unterschiedlichen Populationen von Wahlberechtigten zu praktisch gleichen Resultaten führt. Das legt die Vermutung nahe, dass die Prognosen nicht Umfrageergebnisse widerspiegeln. Die nachfolgende statistische Analyse bestätigt dies.
Bei einer Wahlumfrage soll jeder Wahlberechtigte die gleiche Chance haben,
befragt zu werden. Die Meinungsforscher behaupten wider besseres Wissen, dass
unter dieser Voraussetzung die Umfrage "repräsentativ" sei.
Das Umfrageergebnis wird einfach auf die Gesamtheit aller Wahlberechtigten
übertragen. Sie berufen sich dabei auf die Statistik, die aber eine Aussage
in dieser Form nie gemacht hat.
Otto Normalverbraucher würde hell aufhorchen, wenn ihm klar gemacht wird,
dass der repräsentative Querschnitt kein verkleinertes Abbild
der Wahlbevölkerung ist, sondern mit Hilfe der Landeslotterie
erstellt wird: Jeder Wahlberechtigte erhält ein Los und die unglücklichen
Gewinner werden damit bestraft, dass sie von einem Interviewer zur Unzeit
angerufen und mit einem Fragebogen auf Endlospapier bombardiert werden. Da
stellt sich Otto N. die Frage, warum Umfrageergebnisse denn keine Lottozahlen
seien? Nein, nein, versuchen ihn die Meinungsforscher zu beschwichtigen.
Dieses Problem hätten sie mit der statistischen Fehlertoleranz im
Griff. Otto N. kann es nicht fassen: "Toleranz für Fehler der Meinungsforscher?"
Das sei doch wohl nicht der Sinn von Wahlprognosen. Weil Otto N. nicht locker
lässt, müssen die genervten Prognostiker schließlich mit etwas
herausrücken, was sie sonst immer unter dem Deckel halten:
Mit einer Umfrage können sie keine exakten Prozentzahlen ermitteln, sondern nur lächerlich vage Bereiche, für Schleswig-Holstein beispielsweise:
CDU 35-45%%, SPD 35-45%, Grüne 5-10%, FDP 5-10%, SSW 1-6%.
Diese Fehlerbandbreiten sind der Preis für die Zufallsauswahl von 1000 Wahlberechtigen, von denen die Hälfte keine verbindliche Angabe über die Parteipräferenz macht. Die Zufallsauswahl gilt in der Prognosenindustrie als Qualitätsmerkmal. Doch Otto N. schaudert es bei dem Gedanken: Je zufälliger, desto besser?? Deshalb wird von Meinungsforschern und ihren Auftraggebern (den Medien) die Vorstellung vom verkleinerten Abbild liebevoll gepflegt. So bleibt der repräsentative Querschnitt, was er immer war: Eine Augenwischerei der Meinungsforscher und der Medien. Sie wollen mit diesem Etikettenschindel Umfragergebnissen den Anstrich von Glaubwürdigkeit verleihen und sie mit demoskopischem Parfum vom Stallgeruch der Lottozahlen befreien.
Die von den Meinungsforschern im Kleingedruckten eingeräumten statistischen Fehlertoleranzen sind kleiner als die oben genannten Fehlerbandbreiten von ±5% für CDU und SPD bzw. ±2.5% für FDP, Grüne und SSW. Das liegt daran, dass sie eine falsche Formel für deren Berechnung verwenden (die sogenannte Binomialverteilung). Diese Formel kann nur angewendet werden - was Meinungsforscher einfach nicht zur Kenntnis nehmen wollen -, wenn in der Umfrage nur nach zwei Parteien gefragt wird und die Wahlbeteiligung 100% beträgt. Das ist natürlich absurd. Grundsätzlich gilt: Je mehr Parteien in der Umfrage genannt werden können und je weniger Leute die Sonntagsfrage konkret und definitiv beantworten, desto vager werden die Aussagen über Parteistärken. Meinungsforscher bestreiten dies und behaupten, nur die Anzahl der Befragten sei relevant, die Anzahl der Parteien und die Wahlbeteiligung spiele keine Rolle. Dass das eine unsinnige Behauptung ist, kann Otto Normalverbraucher sogar seinen Stammtischkollegen klarmachen: Wenn nämlich 1000 Wahlberechtigte ausgelost und befragt werden, aber nur 10 Ausgeloste die Sonntagsfrage konkret und definitiv beantworten und die andern 990 sich als Nichtwähler oder Unentschlossene outen, dann ist fast jedes Umfrageergebnis möglich. Überspitzt formuliert: Die Fehlertoleranz beträgt ±100%. Die Fehlertoleranz hängt entscheidend von der Wahlbeteiligung ab. Das hat für die Wahl in Schleswig-Holstein Konsequenzen: Die Zufallsauswahl des "repräsentativen Querschnittes" beschert den Meinungsforschern Umfrageergebnisse, die mit gigantischen Fehlertoleranzen gesegnet sind und die von ihnen genannten Werte weit übersteigen. Das dürfte Otto Normalverbrauchers Fantasie von Lottozahlen beflügeln.
Für eine Wahlumfrage werden einige tausend Telefonnummern in Schleswig-Holstein ausgelost und von Interviewern abgegrast. Falls ein Anruf in einem Haushalt mit Wahlberechtigten landet, dann wird einer von ihnen ausgelost und befragt. Das setzt voraus, dass alle Wahlberechtigten dieses Haushalts anwesend sind. Am besten sitzen sie um einen Tisch herum und einer wird vom Interviewer ausgeknobelt. Der Ausgeloste lässt den Fragebogen stoisch-masochistisch über sich ergehen. Er lässt sich buchstäblich ein Loch in den Bauch fragen und antwortet unentwegt wahrheitsgetreu. Es ist evident, dass diese Vorgehensweise eine enorme Ausfallrate zur Folge hat.
Zum Beispiel musste das ZDF-Politbarometer nach eigenen Angaben im Februar 1998 rund 3500 Telefonnummern auslosen und abklopfen um die angestrebte Zahl von etwa 1250 Interviews bundesweit zu erreichen. Das heißt, dass die große Mehrheit (etwa zwei Drittel) der ausgelosten Telefonnummern keine Information liefert. Die Wahlberechtigten, die sich hinter diesen Nummern "verbergen", sind sozusagen demoskopische Abstinenten, aber deswegen haben sie ihr Stimmrecht nicht verloren. Von den etwa 1250 tatsächlich Befragten outen sich bei der Sonntagfrage (Bundestagswahlen) etwa 250-400 als Nichtwähler oder Unentschlossene (d.h. ca. 20-35%), bei Landtagswahlen meist deutlich mehr. Diese beiden Gruppen - Nichtwähler und Unentschlossene - haben ein beträchtliches Potential als demoskopische Spielverderber.
Die rund 3500 ausgelosten Telefonnummern liefern also im Normalfall eine Ausbeute von nur etwa 800 - 1000 "ausgefüllten Wahlzetteln", in Schleswig-Holstein ist die Ausbeute einiges geringer. Diese Restkollektion wird dann als repräsentativer Querschnitt deklariert und vermarktet. Es ist unbestreitbar, dass eine derartige Sammlung ein bunt zusammengewürfelter Haufen sein kann, aber offensichtlich ist dieser nicht repräsentativ für alle Wahlberechtigten. Denn die demoskopischen Abstinenten (die Nichterreichbaren und Interviewverweigerer etc.) haben die Chance Null in den repräsentativen Querschnitt zu gelangen und befragt zu werden. Damit bleibt mindestens die Hälfte der Wahlberechtigten außen vor (in Schleswig-Holstein deutlich mehr). Ebenso haben die potentiellen demoskopischen Spielverderber (Wankelmütige, Unentschlossene, Nichtwähler) keine Möglichkeit, einer späteren Meinungsänderung Gehör zu verschaffen. Diese beiden Gruppen bilden zusammen die überwiegende Mehrheit, deren Wahlabsichten mit Umfragen grundsätzlich nicht erfasst werden können. Diese grosse, schweigende Mehrheit hat nämlich nicht den geringsten Grund sich bei der Stimmabgabe an Wahlprognosen zu halten, die auf den Aussagen jener Minderheit von Wahlberechtigten beruhen, die gespannt zu Hause auf den Anruf eines Meinungsforschungsinstitutes warten, um ihr politisches Herz einem anonymen Interviewer auszuschütteln. An der geäußerten Wahlabsicht halten sie wie an einem Gelübde fest. Sie lassen sich durch nichts davon abbringen, weder von besserer Einsicht noch einem Verkehrsunfall. Auch nicht von einem Herzinfarkt. Selbst der Tod kann sie nicht von ihrem Gelübde entbinden. Das ist das heile Weltbild der Demoskopie. Wenn wundert es bei dieser Sachlage, dass Umfrageergebnisse manchmal völlig daneben liegen und Meinungsforscher praktisch zwingen, Prognosen aus dem hohlen Bauch zu machen.
Niemand hat das Recht, einen Tipp als das Ergebnis der Sonntagsfrage hinzustellen bzw. diesen Eindruck zu erwecken, wenn die tatsächlichen Zahlen abgeändert werden. Das ist Wählertäuschung, aber branchenüblich.
Es wäre Aufgabe der Politik, die Offenlegung der tatsächlichen Ergebnisse unter Angabe der Ausschöpfungsquote (prozentuales Verhältnis der Interviews zu den insgesamt ausgelosten Telefonnummern), der in der Umfrage ermittelten Wahlbeteiligung und der methodenbedingten Fehlerbandbreite durchzusetzen. Wenn eine Transparenz ähnlich der Preisanschreibepflicht eingeführt wird, dürfte sich das demoskopischen Treiben sehr bald beruhigen. Denn niemand wird sich für Umfrageergebnisse interessieren, die durch die Begleitmusik ad absurdum geführt werden: Durch absurde kleine Ausschöpfungsquoten von 30% und weniger, durch abstruse Wahlbeteiligungen, die von Umfrage zu Umfrage wild varieren, und durch methodenbedingte Fehlerbandbreiten, die bis zu zehn und mehr Prozentpunkte betragen können. Ebenso müßte wie bei genetisch veränderten Lebensmitteln auf der "Verpackung" der Umfrage deutlich gemacht werden, wenn die Umfrageergebnisse abgeändert wurden. Frau Noelle-Neumann, die grosse alte Dame der deutschen Meinungsforschung, hat sich öffentlich damit gebrüstet, dass sie Umfrageergebnisse um bis zu zehn Prozentpunkte abändert, bevor sie die Öffentlichkeit damit beglückt.