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Aktuelle Stunde, 27.9.1989

Befragung von Passanten auf der Straße:

Interviewerin: Legen Sie denn Wert darauf, darüber vor den Wahlen informiert zu werden, wie die Parteien abschneiden könnten?

1. Passantin: Ach ja, es ist ja ganz interessant, einmal zu wissen: "Nach welchen geht der Trend hin?". Wählen tut man ja doch, was man will, aber es ist informationsmäßig ganz interessant.

2. Passant: Relativ bin ich gegen Wahlprognosen, weil ich glaube, daß die Wahlprognosen gleichzeitig beeinflussen, auf der anderen Seite glaube ich, daß die Zuverlässigkeit davon relativ hoch ist, weil erfahrungsgemäß 98 % Trefferquote ist schon eine Menge.

3. Passantin: Ich weiß nicht, ob das nicht die Leute irgendwie beeinflußt. Wenn jetzt eine Prognose kommt, die Partei ist besonders stark, aber dann wähle ich die auch. Das könnte die Wähler beeinflussen, irgendeine Partei zu wählen, vielleicht eine, die sie gar nicht wollen.

Journalist im Studio:

Guten Abend, ich begrüße sie zum Journal Mobil. Wie Sie eben gehört haben, beschäftigen wir uns heute mit Wahlprognosen. Vier Tage vor den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen sind wir deshalb heute beim Wahlforschungsinstitut INFAS in Bonn - Bad Godesberg zu Gast. INFAS hat vor wenigen Tagen eine Umfrage veröffentlicht, nach der die CDU bei den Kommunalwahlen schwere Verluste erleiden wird und die SPD deutlich gewinnen wird. Wie sicher sind diese Prognosen, darf der Bürger ihnen vertrauen, beeinflussen Prognosen gar den Wahlausgang?

Das sind heute unsere Themen. Sehen Sie zunächst einen kurzen Film über INFAS und verschiedene Aspekte der Wahlforschung.

Einspielfilm über Wahlforschung:

Die Wahlforschung ist ein noch recht junges Gewerbe. Das Institut für angewandte Sozialwissenschaften, kurz INFAS, wurde beispielsweise erst 1959 gegründet, zählt damit aber schon zu den älteren Instituten. An den Ergebnissen der Wahlforschung sind vor allem die Parteien und die Medien interessiert. Hier werden gerade WDR-Mitarbeiter für die Kommunalwahlsendungen geschult.

Herzstück der Wahlforschungsinstitute ist der Computerraum, tausende von Daten, die von Interviewern gesammelt wurden, und frühere Wahlergebnisse werden hier gespeichert und verarbeitet. Auf dieser Grundlage entstehen Prognosen und Stimmungsbilder, Hochrechnungen und Analysen.

Hochrechnungen werden am Wahlabend erstellt. Sie basieren auf Auszählungen in ausgewählten Stimmbezirken und gelten daher als recht genau, ebenso die Analysen. Dabei interessiert unter anderem, ob sich Arbeiter, Angestellte oder Landwirte in ihrem Wahlverhalten unterscheiden, ob die Religionszugehörigkeit die Neigung zu bestimmten Parteien erklären könnte, ob Wahlen in der Stadt oder auf dem flachen Land entschieden werden.

Problematisch wird es bei Prognosen und Stimmungsbildern, denn hierbei veröffentlichen die Wahlforscher nicht konkrete Ergebnisse von Umfragen, sondern deren Interpretationen, die von Institut zu Institut verschieden sind. So haben Mannheimer Wahlforscher etwa monatelang bei Umfragen eine rot-grüne Mehrheit in der Bevölkerung festgestellt, aber geradezu das Gegenteil, nämlich eine Mehrheit für die Union und die FDP veröffentlicht. "Gewichtung" nennen die Wahlforscher solche Veränderungen, "Schwindel" nennen dies ihre Kritiker.

Interview mit dem INFAS - Chef Liepelt

Interviewerin: Daß Wahlprognosen sich hierzulande einer großen Beliebtheit erfreuen, das ist wohl sicher. Der Reiz ist groß, zu erfahren - schon vor der Wahl zu erfahren, wie die bevorzugte Partei denn nun abschneiden wird.
Herr Liepelt, Sie sind Chef hier des INFAS - Institutes in Bonn. Sagen Sie, wie kommen die Wahlprognosen überhaupt zustande?

Liepelt: Nun, zunächst einmal, was die Meinungsumfragen machen, sind ja gar keine Wahlprognosen, sondern sie machen Momentaufnahmen, sie beobachten die Veränderung der öffentlichen Meinung von Woche zu Woche, von Monat zu Monat werden die Leute gefragt: "Was würden Sie tun, wenn morgen Wahlen wären?" und dann geben die Leute nun die Antwort, die sie in dem Augenblick glauben, geben zu sollen und geben zu wollen.

Interviewerin: Aber diese Antwort, die Sie erhalten, die müssen ja noch gewichtet werden. Wie funktioniert das, wie kommt das zustande?

Liepelt: Zunächst einmal geben nur ungefähr 70% eine Antwort, die anderen 30% haben entweder die Antwort insgesamt verweigert oder 18 bis 20% haben auch noch gar keine richtige Entscheidung gefällt. Sie wissen noch nicht, was sie tun sollen, übrigens diese Zahl wird zunehmend größer in unserer Republik in den letzten Jahren. Und diese Zahlen muß man nun irgendwie bewerten, man kann nicht einfach sagen, ich nehme nur die 70%, die eine Antwort abgegeben haben, das wäre auf jeden Fall falsch. Also muß ich jetzt sehen, wie erfahre ich über diese 30% die Präferenzstruktur.
Ich frage die Leute noch: "Was habt ihr vorher gewählt?", "Was ist die zweitbeste Partei?", "Welche Partei ist das kleinere Übel?". Ich habe eine ganze Reihe von Fragen, aus denen ich mir dann ein Bild verschaffe über die Präferenz dieses Wählers, der zunächst einmal noch nicht sicher ist, was er tun wird.

Interviewerin: Wieviel Prozentpunkte kann denn im Extremfall eine solche Gewichtung betragen?

Liepelt: Ja, diese 30% ähneln ja nachher in ihrer Struktur auch den anderen 70%, sodaß im Grunde genommen das Urergebnis, was wir zunächst einmal ermittelt haben, um 1-2% verändert wird.

Interviewerin: Nun heißt es ja, Sie befragen einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung, aber ist das wirklich ein Spiegelbild der Bevölkerung, das Sie da befragen?

Liepelt: Wenn es ein repräsentativer Querschnitt ist, muß es ein Spiegelbild sein. Es ist manchmal sehr schwer, Repräsentativität herzustellen, das ist die Aufgabe dieser Umfragen, das möglichst solide zu tun.

Interviewerin: Es gibt Kritiker, die sagen, es wäre mehr eine Zufallsauswahl, ein Lotteriespiel.

Liepelt: Nein, es ist eine Zufallsauswahl es ist ein Lotteriespiel. Und gerade weil man wie im Lotto sozusagen den Zufall walten läßt, trifft es mal den oder mal den, der dort befragt wird. Wenn das nicht der Fall wäre, dann wäre es keine repräsentative Umfrage.

Interviewerin: Herr Liepelt, ist es denn nicht schon so, daß die Wahlprognosen an sich schon die Wahl beeinflussen?

Liepelt: Nein, natürlich beeinflussen Prognosen ebensowenig eine Wahl wie das, was Sie als Journalisten über den Wahlkampf berichten oder was die Parteigeschäftsführer an Werbung herausgeben, sondern es ist einfach so:
Die Meinungsumfragen gehören nun einmal zum öffentlichen Leben dazu, jeder möchte gerne wissen: "Wie sind die Chancen des Machtwechsels?", "Soll ich eine Regierung stützen oder stürzen helfen?". Das ist ja für mich die Frage als Wähler. Also möchte ich auch Informationen haben, wie der Stand nun eigentlich ist, damit ich mein Urteil auch daran orientieren kann. Insofern ist die Meinungsumfrage ein Hilfsmittel zur Orientierung des Wählers, was aus einer normalen Demokratie gar nicht mehr wegzudenken ist.

Interviewerin: Vielen Dank Herr Liepelt.

Meine Damen und Herren, es gibt Kritiker, die halten überhaupt nichts von solchen Wahlprognosen, aber hören Sie dazu mehr im folgenden Gespräch.

Interview mit Professor Ulmer:

Interviewer: Wir haben also jetzt erfahren, wie Wahlforscher arbeiten und wir haben auch erfahren, was sie von sich halten - nämlich eine ganze Menge - die Wahlprognosen sind alle sehr gut. Bei mir sitzt jetzt Professor Ulmer von der Universität Wuppertal und er hält von den Wahlforscher überhaupt nichts. Was kritisieren Sie an der Wahlforschung?

Prof. Ulmer: Das ist ein kleines Mißverständnis: Es gibt keine Wahlforschung. Es gibt ein Wahlgeschäft. Es werden Prognosezahlen vermarktet, die angeblich die momentane Stimmung reflektieren oder gar den Wahlausgang. Dabei wird der Eindruck von Wissenschaftlichkeit erweckt. In Wirklichkeit basieren diese Prognosezahlen nicht auf einer gemessenen Volksmeinung, sondern sie reflektieren primär die Spekulationen der Wahlforscher. Nur die Wahlforscher verwenden dafür ein anderes Wort - sie nennen es salbungsvoll "Gewichtungskunst". Trendangaben über das zeitliche Auf und Ab der Parteistärken in einem Wahlgang haben reinen Horoskopcharakter. Was sich in Wirklichkeit abspielt, das sagt kein Mensch.

Interviewer: Aber warum sind denn dann Wahlprognosen bisher eigentlich so gut gelaufen?

Prof. Ulmer: Dasselbe können Sie auch von Stammtischschätzungen sagen. Es kommt ja auch vor, daß die Leute am Stammtisch das richtige Ergebnis vorhersagen. Das ganze funktioniert solange, wie sich nichts wesentliches ändert. In Wirklichkeit sind diese Wahlprognosen ein Fortschreiben des letzten Wahlresultates. Das letzte Wahlresultat wird entweder nach oben oder unten korrigiert, wie nach der vermeintlichen politischen Windrichtung.

Interviewer: Das ist die sogenannte "Gewichtung" bei den Wahlforschern. Wie funktioniert denn das? Die schicken also ihre Interviewer raus und erhalten nun Daten. Was machen die jetzt mit den Daten?

Prof. Ulmer: Die Daten werden in den Computer eingegeben und hinterher ausgewertet. Aber Gewichtung ist ja das, wie die Resultate hinterher verändert werden. Denn der sogenannte repräsentative Querschnitt, auf dem das ganze beruht, den gibt es nicht, das ist ein reiner Etikettenschwindel. Es gibt kein "Miniaturbild" der Bevölkerung in dieser Form, wie das die Wahlforscher behaupten. Diese Hochrechnung von einem Miniaturbild - von einem repräsentativen Querschnitt - ist mit sehr großen Fehlern verbunden. Diese Fehler sind mathematisch-statistisch unvermeidbar. Sie werden aber nach außen nicht vorgegeben.

Interviewer: Herr Ulmer, in welcher Größenordnung liegen denn diese Fehler der Wahlforscher?

Prof. Ulmer: Die unvermeidlichen Fehler, die sich ergeben aus der statistischen Hochrechnung aus einem repräsentativen Querschnitt auf die ganze Bevölkerung - da muß man bei den großen Parteien CDU und SPD von einem Fehler von 8 % ausgehen. Sie können für die CDU nur eine Voraussage machen wie 40 - 48%, für die SPD können sie sagen 35 - 43%, für die kleinen Parteien, die Grünen und die FDP, können sie sagen, plus/minus 2,5 %...

Interviewer: Aber das heißt doch nichts anderes, als daß diese Prognosen vollkommen wertlos sind? Damit kann keiner was anfangen, sie sind für den Bürger wertlos.

Prof. Ulmer: Das ist richtig. Deshalb werden sie in der Form nicht publiziert.

Interviewer: Was würden Sie denn dem Bürger raten, wie er mit Wahlprognosen umgehen soll?

Prof. Ulmer: Ja, er soll diesem Zeug keinen Glauben schenken. Er muß einfach bei diesen Resultaten die Fehlermarge einbauen in seinem Hinterkopf und dann schauen - unter Berücksichtigung der Fehlermarge - kommt denn da noch was vernünftiges bei raus? Die Zahlen als nackte Zahlen zu nehmen, das hat überhaupt keinen Sinn. Das soll man vergessen. Man soll so wählen, wie man es für richtig hält.

Interviewer: Herzlichen Dank, Herr Ulmer. Zu diesen beiden konträren Aussagen zur Wahlforschung hören wir jetzt einen Kommentar meiner Kollegin Dorothee Pitz.

Kommentar von Frau Pitz:

Zuverlässig und genau erscheinen die Wahlprognosen der Meinungsforschungsinstitute, die uns pünktlich vor den anstehenden Wahlen präsentiert werden. Die Prozentpunkte hinter dem Komma lassen kaum einen Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Ergebnisse zu. Zahlen haben eben ein besonderes Image. Der Status statistischer Meßmethoden wird kaum je in Zweifel gestellt. Dabei ist der sogenannte "repräsentative Querschnitt" nicht mehr als ein Zufallsprodukt, das ohne den Rückgriff auf vorhergegangene Wahlen kaum einen Erkenntniswert besitzt. Ohne Gewichtung - keine Wahlprognose. Auch der Interviewer selbst und die Umgebung der Befragung können eine erhebliche Fehlerquelle darstellen und die Entscheidung des Interviewten beeinflussen. Auch der völlig überraschende Wahlerfolg der Republikaner Anfang des Jahres 1989 in Berlin wurde von den Meinungsforschungsinstituten nicht vorhergesagt. An neuen politischen Erscheinungsformen scheinen die Prognosen zu scheitern. Hätten wir in der Bundesrepublik nicht über Jahrzehnte hinweg ein stabiles Parteiensystem gehabt, wäre dies wahrscheinlich schon früher aufgefallen. Von solchen Fehlerquellen ist nie die Rede, wenn Umfrageergebnisse publik gemacht werden. Was mich aber vor allem erschreckt, ist nicht die Fragwürdigkeit der Wahlprognosen, sondern die Selbstverständlichkeit, mit der die Umfrageergebnisse zahlengläubigen Wählern als das Abbild der Realität präsentiert werden. Wichtig erscheint mir, mit den Zahlenergebnissen deutlich und transparent zu machen, wie sie zustande gekommen sind und vor allem, wo ihre Aussagekraft endet.

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