Betrachten wir ein konkretes Beispiel. Angenommen, die FDP hat 4,5% der Stimmen erhalten, also 1.800.000 Stimmzettel: Wie viele der repräsentativen 1000er-Querschnitte enthalten exakt 45 Stimmzettel für die FDP, reproduzieren also genau ihr Wahlergebnis von 4,5%? Diese Frage läßt sich sowohl durch theoretische Berechnung mit Hilfe der Binomialverteilung als auch durch Simulation - hinreichend häufige Auslosung des repräsentativen Querschnittes - beantworten.
Der relative Anteil der repräsentativen 1000er-Querschnitte, die genau 45 FDP-Stimmzettel enthalten, beträgt nur sechs Prozent, das heißt, bei häufiger Auslosung von repräsentativen Querschnitten wird im Durchschnitt nur etwa jeder siebzehnte repräsentative Querschnitt das Wahlergebnis von 4,5% für die FDP reproduzieren.
Ferner findet man jede Anzahl von FDP-Stimmzetteln zwischen 40 und 49 in ungefähr 5 bis 6% der ausgelosten repräsentativen 1000er-Querschnitte.
Wie man hieraus sieht, ist ein Querschnitt vom Umfang 1000 ein recht untaugliches Mittel zur Bestimmung des FDP-Anteils. Obwohl wir wissen, daß dieser 4,5% beträgt, werden uns die 1000er-Querschnitte jedes Resultat von 4,0 bis 4,9% mit einer etwa gleich geringen Häufigkeit bescheren.
Bei diesem diffusen Bild stellt sich die Frage, wie viele der repräsentativen Querschnitte der FDP fälschlicherweise einen Einzug in den Bundestag prophezeien, also 50 oder mehr FDP-Stimmzettel unter den ausgelosten 1000 enthalten und damit einen FDP-Anteil von 5% oder mehr vortäuschen. Der Anteil der Querschnitte mit genau 50 FDP-Stimmen beträgt 4,4% und unterscheidet sich damit kaum von demjenigen mit 45 Stimmen für die FDP (dem tatsächlichen Wert). Die relativen Anteile der repräsentativen Querschnitte, die zwischen 50 und 60 FDP-Stimmzettel enthalten, sind in der folgenden Tabelle aufgeführt. In der ersten Zeile ist die Anzahl der gefundenen FDP-Stimmzettel und in der zweiten Zeile der prozentuale Anteil der repräsentativen 1000er-Querschnitte mit dieser Anzahl angegeben:
50 | 51 | 52 | 53 | 54 | 55 | 56 | 57 | 58 | 59 | 60 |
4,4% | 3,8% | 3,3% | 2,8% | 2,3% | 1,9% | 1,5% | 1,2% | 0,9% | 0,7% | 0,5% |
Summiert man die untere Zeile, so folgt, daß rund 23% aller repräsentativen Querschnitte vortäuschen, die FDP habe 5% bis 6% der Wählerstimmen erhalten und damit den Einzug in den Bundestag geschafft, obwohl der tatsächliche Stimmenanteil für die FDP bei 4,5% liegt! Zusätzlich enthalten über 1% aller 1000er-Querschnitte 61 oder mehr FDP-Stimmzettel und täuschen vor, daß die FDP über 6% der abgegebenen Stimmen erhalten hat.
Somit werden über 24% aller repräsentativen Querschnitte der FDP fälschlicherweise den Einzug in den Bundestag prophezeien (siehe Tabelle auf der folgenden Seite). Jeder vierte repräsentative Querschnitt täuscht also ein Überwinden der 5%-Hürde vor.
Man muß sich bei diesem Ergebnis noch einmal klar machen, daß der Ausgangspunkt die vollzogene Wahl ist : Jedes Prognose-Institut bekommt die zu seinem repräsentativen Querschnitt gehörenden ausgefüllten Stimmzettel. Allein aufgrund der Tatsache, daß 1000 Wahlberechtigte per Lotterie ausgewählt wurden, kommt es zu so starken Schwankungen, daß eine von vier Prognosen nicht einmal die wichtige Frage der 5%-Hürde richtig beantwortet, obwohl unterstellt ist, daß die FDP in "Wahrheit" mit 4,5% relativ weit darunter liegt.
Je näher der tatsächliche Stimmenanteil an die 5%-Marke gerät, desto schlechter werden die Chancen der Querschnitte, wie die Tabelle zeigt. Auch im umgekehrten Fall, daß die FDP in Wahrheit über 5% liegt, sieht es nicht besser aus (siehe Tabelle "Überwinden der 5%-Hürde") : Hat die FDP einen wahren Anteil von 5,5%, liegt sie also deutlich über der 5%-Grenze, dann behaupten 22,5% aller repräsentativen Querschnitte fälschlicherweise, die FDP hätte den Einzug in den Bundestag nicht geschafft.
Das Problem liegt einfach in der viel zu geringen Zahl 1000. Das wird deutlich, wenn man dieselbe Überlegung mit anderen Querschnittsumfängen durchführt (man vergleiche dazu die Tabelle auf der folgenden Seite).
Um bei einem wahren Anteil von 4,9% das Verpassen der 5%-Hürde einigermaßen sicher zu diagnostizieren, müßte man fast 130.000 Interviews führen. Es grenzt deshalb an Verhältnis-Schwachsinn, wenn ein Meinungsforschungsinstitut auf der Basis von 1075 Interviews den Grünen mit 4,9% den Nichteinzug in einen Landtag prophezeit - es sei denn, es handle sich um eine politisch motivierte Prognose, die die SPD dadurch zu schwächen versucht, daß ihr Zweitstimmen zur Rettung der Grünen abspenstig gemacht werden. Demoskopie hat eben viele Anwendungsmöglichkeiten.
Doch zurück zu den Wahlprognosen mit 1000 Stimmzetteln. Ein Blick in die Tabellen zeigt, daß die Prognosen die Frage nach der 5%-Hürde nur dann einigermaßen verläßlich beantworten können, wenn das Wahlergebnis für die FDP entweder unter 4% oder über 6,2% liegt. Nur dann liefern 95% der Prognosen, also 19 von 20, die richtige Antwort. Bei Wahlergebnissen zwischen 4% und 6,2% haben die Prognosen keine Aussagekraft für oder gegen den Einzug in den Bundestag. Gerade da aber wären sie von Interesse.
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