Box 1: Auszug aus dem SPIEGEL

Nr. 43/1986 Seiten 146/147

Meinungsforschung

Dubiose Untersuchung

Einen Rechtsstreit gegen den SPIEGEL glaubte Allensbach-Chefin Noelle-Neumann da-durch gewinnen zu können, daß sie eine bislang geheimgehaltene Umfrage vorlegte.

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In allen (Bundes-) Ländern wurden Umfragen bekannt, die vor den jeweiligen Wahlen durchgeführt wurden. Oft taten sich die Institute schwer, realistische Zahlen zu ermitteln, wie sich auch bei den letzten Wahlen in Niedersachsen und Bayern zeigte.

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Das Noelle-Institut ermittelte fünf Wochen vor der Wahl im Saarland am 10. März 1985:

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Auftraggeber Werner Zeyer, zur Zeit der Umfrage CDU- und Regierungschef an der Saar, und Auftragnehmerin Noelle-Neumann versuchten eine Veröffentlichung zu verhindern, jeder auf eine andere Weise: Zeyer schwieg, und Frau Noelle-Neumann schwindelte. Sie bestritt die 47 Prozent und schickte einige frisierte Zahlen nach Hamburg, mit denen sie über das Desaster hinwegtäuschen wollte.

Auch ohne Auskünfte der beiden Beteiligten und ohne Kenntnis der Umfrage-Tabellenbände reichten die Informationen für einen Artikel

(SPIEGEL 17/1985).

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Die Allensbach-Chefin verlangte eine Gegendarstellung, die nach deutschem Presserecht unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt zu veröffentlichen ist. Als dies nur mit einen Zusatz geschah ("Der SPIEGEL bleibt bei seiner Darstellung"), beantragte sie beim Hamburger Landgericht eine einstweilige Verfügung: Den SPIEGEL solle verboten werden, seinen Satz zu wiederholen. Ihre Saar-Unterlagen fügte sie bei.

Bei der Lektüre der 150 Seiten stellte sich heraus, daß die Untersuchung noch dubioser war, als die Recherchen für den ersten Artikel ergeben hatten.

Es handelt sieh um zwei Umfragen. Für die erste lieferte das Institut zwei verschiedene Ergebnisse (siehe Graphik), weil in Allensbach der erste Bericht schon geschrieben wurde, als noch gar nicht alle Fragebögen im Institut eingetroffen und ausgewertet worden waren.

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Bei der zweiten Umfrage wurden nur 474 Männer und Frauen befragt, von denen ein Fünftel die Auskunft über die Partei ihrer Wahl verweigerte. Mithin lagen den Angaben über die Stärke oder Schwäche der Saar-Parteien nur 370 Interviews zugrunde, jeweils 3,7 Befragte machten ein Prozent aus.

Ein Rechenbeispiel zeigt, auf welches Vabanquespiel sich ein Institut mit solch niedrigen Zahlen einläßt.

Erklären 19 Befragte, sie würden FDP wählen, wer-den dieser Partei die lebens-notwendigen fünf Prozent zugesprochen. Nennen 15 Befragte die Partei, zählen sie als vier Prozent. Es hat schon seinen Sinn, wenn Frau Noelle-Neumann - allerdings an ganz anderer Stelle - verkündet, daß "seriöse politische Umfragen erst bei 800 Befragten anfangen".

Wollte man den Allensbacher Zahlen glauben, dann müßten sich in Saarland ohne irgendeinen politischen Grund zwei ganz verschiedene Entwicklungen vollzogen haben: in der Zeit zwischen der ersten und der zweiten Umfrage stark zugunsten der CDU, zwischen der zweiten Umfrage und den Wahlen noch weit stärker zugunsten der SPD.

Der Vergleich der ersten mit der zweiten Umfrage animierte die Allensbacher Wahlforscher. die Saar-CDU auf Sieg zu programmieren. Die Partei habe sich "klar vor die SPD gesetzt": "Den Kampf um die absolute Mehrheit im Saarland zu führen, wird nach dieser Sachlage die Aufgabe der CDU sein müssen."

Etwaige Zweifel wurden von vornherein erstickt: "Die Zunahme der Wahlabsicht für die CDU ist kein isoliertes Ergebnis, sondern sie wird abgestützt durch zahlreiche andere Ergebnisse." Da wundert man sich nicht, daß der leichtgläubige Zeyer als eine Art Allensbach-Echo verkündete: "Wir liegen vor der SPD, und es wird deutlich, daß die CDU sich im Aufschwung befindet."

Umgekehrt hätten die SPD-Genossen, wäre ihnen die Allensbach-Expertise zu Gesicht gekommen und hätten sie ihr vertraut, den Mut verlieren müssen. Die Situation dieser Partei, die einen in der Bundesrepublik fast beispiellosen Wahlsieg erkämpfte (nur zweimal gelang es einer Partei in einem anderen Bundesland, aus der Opposition heraus die absolute Mehrheit zu erkämpfen) , schilderte das Noelle-Institut so, als stehe sie kurz vor ihrem Waterloo:

Sie sei "deutlich geschwächt", auch habe "die Aktivität der SPD-Anhänger eher nachgelassen". Es gebe eine "Abnahme in der Sympathie von Lafontaine", und die SPD habe "an Vertrauen in ihre wirtschaftliche Kompetenz verloren". Auch sei die "Erwartung, es werde nach der Landtagswahl zu einer SPD-geführten Regierung kommen, abgeflaut".

Und, Schließlich: "für die SPD erscheint das Ziel, eine absolute Mehrheit im Saarland zu erreichen, gegenwärtig aussichtslos."

Der Fehlprognosen noch immer nicht genug: es scheine "jetzt sicher, daß die Grünen die Fünf-Prozent-Hürde überwinden".

Die Zivilkammer 24 des Landgerichtes Hamburg wies angesichts solcher Zahlen und Sprüche den Allensbacher Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Verfügung zurück: Die Behauptung, die Frau Noelle-Neumann verbieten lassen wolle, müsse "als richtig angesehen werden".

Und: Wenn Allensbach "einen Monat vor der Wahl von einer möglichen absoluten Mehrheit spricht und der tatsächliche Wahlausgang für die beratene Partei lediglich 37 Prozent ergibt, darf zu Recht von einem "Danebentappen" gesprochen werden.

Anmerkung: Dieses Beispiel von "Repräsentativumfragen" auf der Basis von 370 Interviews illustriert auch, daß bei Frau Noelle-Neumann Theorie und Praxis betreffend Pseudogenauigkeit von Prozentzahlen auseinanderklaffen. Man vergleiche ihre Ausführungen zu diesem Punkt in ihrem Buch "Umfragen in der Massengesellschaft" (S. 223): "Obwohl es mathematisch-statistisch niemals falsch sein kann, Prozente auf Dezimale genau auszurechnen, können Dezimalzahlen psychologisch irreführen, indem sie eine größere Genauigkeit vortäuschen, als die ursprünglichen Zahlen für sich beanspruchen können. Sind die Prozentzahlen ... auf der Basis von 300 Fällen berechnet und nicht auf der Basis von 10 000 Fällen, so ist es viel besser, auf die Bedeutungslosigkeit solcher Unterschiede (in der Nachkommastelle) hinzuweisen, indem man die Dezimale wegläßt und auf- bzw. abrundet."

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